Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Nicolai, Friedrich: Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker. Bd. 3. Berlin u. a., 1776.

Bild:
<< vorherige Seite



nochmals beyläufig, des hirtenliebenden Jan Ha-
gels.

Gutmüthige Layen, welche aufmerksam zuhören,
wenn geistliche Herren, über die Orthodorie und He-
terodoxie eines andern streiten, befinden sich ohnge-
fähr in der Lage, als wenn gewöhnliche Menschen,
bey der Konsultation gelehrter Aerzte, über den un-
gewissen Zustand eines Kranken, zugegen sind. Sie
trauen dem Patienten, nicht allein, bald alle die frem-
den Krankheiten zu, deren griechische Namen ihm
von beiden Seiten zugeworfen werden, sondern, es
fängt sie wohl selbst an, ein Schwindel, Kopfweh
oder Gliederreissen anzuwandeln; wenn man die
ganze Pathologie so vor ihnen die Musterung pas-
siren läßt.

So gieng es dem Kaufmanne und seiner Frau, die
den ganzen Streit voll Betäubung angehört hat-
ten. Sie sahen bald den Sebaldus ganz furchtsam
darüber an, daß er, wider alles Vermuthen, sich
so gräßliche Lehren behaupte, bald wollten sie
ihn, mit dem vielen Guten, das sie sonst an ihm be-
merkt hatten, entschuldigen, bald fiengen sie an, für
sich selbst zu fürchten, ob sie wohl in ihrem
Christenthume so lau geworden, um die Jrrlehren
nicht zu fühlen, bald gereute es sie, daß die wohlan-

gefangene



nochmals beylaͤufig, des hirtenliebenden Jan Ha-
gels.

Gutmuͤthige Layen, welche aufmerkſam zuhoͤren,
wenn geiſtliche Herren, uͤber die Orthodorie und He-
terodoxie eines andern ſtreiten, befinden ſich ohnge-
faͤhr in der Lage, als wenn gewoͤhnliche Menſchen,
bey der Konſultation gelehrter Aerzte, uͤber den un-
gewiſſen Zuſtand eines Kranken, zugegen ſind. Sie
trauen dem Patienten, nicht allein, bald alle die frem-
den Krankheiten zu, deren griechiſche Namen ihm
von beiden Seiten zugeworfen werden, ſondern, es
faͤngt ſie wohl ſelbſt an, ein Schwindel, Kopfweh
oder Gliederreiſſen anzuwandeln; wenn man die
ganze Pathologie ſo vor ihnen die Muſterung paſ-
ſiren laͤßt.

So gieng es dem Kaufmanne und ſeiner Frau, die
den ganzen Streit voll Betaͤubung angehoͤrt hat-
ten. Sie ſahen bald den Sebaldus ganz furchtſam
daruͤber an, daß er, wider alles Vermuthen, ſich
ſo graͤßliche Lehren behaupte, bald wollten ſie
ihn, mit dem vielen Guten, das ſie ſonſt an ihm be-
merkt hatten, entſchuldigen, bald fiengen ſie an, fuͤr
ſich ſelbſt zu fuͤrchten, ob ſie wohl in ihrem
Chriſtenthume ſo lau geworden, um die Jrrlehren
nicht zu fuͤhlen, bald gereute es ſie, daß die wohlan-

gefangene
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0035" n="27[26]"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
nochmals beyla&#x0364;ufig, des hirtenliebenden <hi rendition="#fr">Jan Ha-<lb/>
gels.</hi></p><lb/>
          <p>Gutmu&#x0364;thige Layen, welche aufmerk&#x017F;am zuho&#x0364;ren,<lb/>
wenn gei&#x017F;tliche Herren, u&#x0364;ber die Orthodorie und He-<lb/>
terodoxie eines andern &#x017F;treiten, befinden &#x017F;ich ohnge-<lb/>
fa&#x0364;hr in der Lage, als wenn gewo&#x0364;hnliche Men&#x017F;chen,<lb/>
bey der Kon&#x017F;ultation gelehrter Aerzte, u&#x0364;ber den un-<lb/>
gewi&#x017F;&#x017F;en Zu&#x017F;tand eines Kranken, zugegen &#x017F;ind. Sie<lb/>
trauen dem Patienten, nicht allein, bald alle die frem-<lb/>
den Krankheiten zu, deren griechi&#x017F;che Namen ihm<lb/>
von beiden Seiten zugeworfen werden, &#x017F;ondern, es<lb/>
fa&#x0364;ngt &#x017F;ie wohl &#x017F;elb&#x017F;t an, ein Schwindel, Kopfweh<lb/>
oder Gliederrei&#x017F;&#x017F;en anzuwandeln; wenn man die<lb/>
ganze Pathologie &#x017F;o vor ihnen die Mu&#x017F;terung pa&#x017F;-<lb/>
&#x017F;iren la&#x0364;ßt.</p><lb/>
          <p>So gieng es dem Kaufmanne und &#x017F;einer Frau, die<lb/>
den ganzen Streit voll Beta&#x0364;ubung angeho&#x0364;rt hat-<lb/>
ten. Sie &#x017F;ahen bald den <hi rendition="#fr">Sebaldus</hi> ganz furcht&#x017F;am<lb/>
daru&#x0364;ber an, daß er, wider alles Vermuthen, &#x017F;ich<lb/>
&#x017F;o gra&#x0364;ßliche Lehren behaupte, bald wollten &#x017F;ie<lb/>
ihn, mit dem vielen Guten, das &#x017F;ie &#x017F;on&#x017F;t an ihm be-<lb/>
merkt hatten, ent&#x017F;chuldigen, bald fiengen &#x017F;ie an, fu&#x0364;r<lb/>
&#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t zu fu&#x0364;rchten, ob &#x017F;ie wohl in ihrem<lb/>
Chri&#x017F;tenthume &#x017F;o lau geworden, um die Jrrlehren<lb/>
nicht zu fu&#x0364;hlen, bald gereute es &#x017F;ie, daß die wohlan-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">gefangene</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[27[26]/0035] nochmals beylaͤufig, des hirtenliebenden Jan Ha- gels. Gutmuͤthige Layen, welche aufmerkſam zuhoͤren, wenn geiſtliche Herren, uͤber die Orthodorie und He- terodoxie eines andern ſtreiten, befinden ſich ohnge- faͤhr in der Lage, als wenn gewoͤhnliche Menſchen, bey der Konſultation gelehrter Aerzte, uͤber den un- gewiſſen Zuſtand eines Kranken, zugegen ſind. Sie trauen dem Patienten, nicht allein, bald alle die frem- den Krankheiten zu, deren griechiſche Namen ihm von beiden Seiten zugeworfen werden, ſondern, es faͤngt ſie wohl ſelbſt an, ein Schwindel, Kopfweh oder Gliederreiſſen anzuwandeln; wenn man die ganze Pathologie ſo vor ihnen die Muſterung paſ- ſiren laͤßt. So gieng es dem Kaufmanne und ſeiner Frau, die den ganzen Streit voll Betaͤubung angehoͤrt hat- ten. Sie ſahen bald den Sebaldus ganz furchtſam daruͤber an, daß er, wider alles Vermuthen, ſich ſo graͤßliche Lehren behaupte, bald wollten ſie ihn, mit dem vielen Guten, das ſie ſonſt an ihm be- merkt hatten, entſchuldigen, bald fiengen ſie an, fuͤr ſich ſelbſt zu fuͤrchten, ob ſie wohl in ihrem Chriſtenthume ſo lau geworden, um die Jrrlehren nicht zu fuͤhlen, bald gereute es ſie, daß die wohlan- gefangene

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/nicolai_nothanker03_1776
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/nicolai_nothanker03_1776/35
Zitationshilfe: Nicolai, Friedrich: Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker. Bd. 3. Berlin u. a., 1776, S. 27[26]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nicolai_nothanker03_1776/35>, abgerufen am 21.11.2024.