Sebaldus fiel ihm schnell in die Rede: ,Und wenn "sie denn nun inkonsequent wären? Wer einzelne Vor- "urtheile bestreitet, aber viele andere damit verbun- "dene nicht bestreiten kann oder darf, kann, seiner "Ehrlichkeit und seiner Einsicht unbeschadet, inkonse- "quent seyn oder scheinen. Die Verbesserer der Reli- "gion mögen immerhin ein zerrißnes Buch seyn, daß "weder Titel noch Register hat, und in welchem hin "und wieder Blätter fehlen; aber auf den vorhande- "nen Blättern stehen nöthige, nützliche, vortrefflliche "Sachen, und ich will diese Blätter, ohne Zusammen- "hang, lieber haben, als Meenens Beweis der "Ewigkeit der Höllenstrafen, und wenn dieß "Buch noch so komplet wäre.'
Der Prediger schaute, mit stierem Blicke, und ver- längertem Angesichte, dem Sebaldus gerade ins Ge- sicht, zog seinen Hut langsam ab, und sagte, indem er sich gegen ihn neigte, mit einem Tone voll Nach- druck und Würde:
,Sie sind also, wie ich merke, ein Gönner der "neuern heterodoxen Theologen. Sie werden ver- "muthlich alles, was dahin gehört, wohl überlegt ha- "ben; denn Herren Jhrer Art handeln niemals un- "überlegt. Sagen Sie mir also doch, was für ein
"Chri-
Sebaldus fiel ihm ſchnell in die Rede: ‚Und wenn ”ſie denn nun inkonſequent waͤren? Wer einzelne Vor- ”urtheile beſtreitet, aber viele andere damit verbun- ”dene nicht beſtreiten kann oder darf, kann, ſeiner ”Ehrlichkeit und ſeiner Einſicht unbeſchadet, inkonſe- ”quent ſeyn oder ſcheinen. Die Verbeſſerer der Reli- ”gion moͤgen immerhin ein zerrißnes Buch ſeyn, daß ”weder Titel noch Regiſter hat, und in welchem hin ”und wieder Blaͤtter fehlen; aber auf den vorhande- ”nen Blaͤttern ſtehen noͤthige, nuͤtzliche, vortrefflliche ”Sachen, und ich will dieſe Blaͤtter, ohne Zuſammen- ”hang, lieber haben, als Meenens Beweis der ”Ewigkeit der Hoͤllenſtrafen, und wenn dieß ”Buch noch ſo komplet waͤre.‛
Der Prediger ſchaute, mit ſtierem Blicke, und ver- laͤngertem Angeſichte, dem Sebaldus gerade ins Ge- ſicht, zog ſeinen Hut langſam ab, und ſagte, indem er ſich gegen ihn neigte, mit einem Tone voll Nach- druck und Wuͤrde:
‚Sie ſind alſo, wie ich merke, ein Goͤnner der ”neuern heterodoxen Theologen. Sie werden ver- ”muthlich alles, was dahin gehoͤrt, wohl uͤberlegt ha- ”ben; denn Herren Jhrer Art handeln niemals un- ”uͤberlegt. Sagen Sie mir alſo doch, was fuͤr ein
”Chri-
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0090"n="84"/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/><p><hirendition="#fr">Sebaldus</hi> fiel ihm ſchnell in die Rede: ‚Und wenn<lb/>”ſie denn nun inkonſequent waͤren? Wer einzelne Vor-<lb/>”urtheile beſtreitet, aber viele andere damit verbun-<lb/>”dene nicht beſtreiten kann oder darf, kann, ſeiner<lb/>”Ehrlichkeit und ſeiner Einſicht unbeſchadet, inkonſe-<lb/>”quent ſeyn oder ſcheinen. Die Verbeſſerer der Reli-<lb/>”gion moͤgen immerhin ein zerrißnes Buch ſeyn, daß<lb/>”weder Titel noch Regiſter hat, und in welchem hin<lb/>”und wieder Blaͤtter fehlen; aber auf den vorhande-<lb/>”nen Blaͤttern ſtehen noͤthige, nuͤtzliche, vortrefflliche<lb/>”Sachen, und ich will dieſe Blaͤtter, ohne Zuſammen-<lb/>”hang, lieber haben, als <hirendition="#fr">Meenens Beweis der<lb/>”Ewigkeit der Hoͤllenſtrafen,</hi> und wenn dieß<lb/>”Buch noch ſo komplet waͤre.‛</p><lb/><p>Der Prediger ſchaute, mit ſtierem Blicke, und ver-<lb/>
laͤngertem Angeſichte, dem <hirendition="#fr">Sebaldus</hi> gerade ins Ge-<lb/>ſicht, zog ſeinen Hut langſam ab, und ſagte, indem<lb/>
er ſich gegen ihn neigte, mit einem Tone voll Nach-<lb/>
druck und Wuͤrde:</p><lb/><p>‚Sie ſind alſo, wie ich merke, ein Goͤnner der<lb/>”neuern heterodoxen Theologen. Sie werden ver-<lb/>”muthlich alles, was dahin gehoͤrt, wohl uͤberlegt ha-<lb/>”ben; denn Herren Jhrer Art handeln niemals un-<lb/>”uͤberlegt. Sagen Sie mir alſo doch, was fuͤr ein<lb/><fwplace="bottom"type="catch">”Chri-</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[84/0090]
Sebaldus fiel ihm ſchnell in die Rede: ‚Und wenn
”ſie denn nun inkonſequent waͤren? Wer einzelne Vor-
”urtheile beſtreitet, aber viele andere damit verbun-
”dene nicht beſtreiten kann oder darf, kann, ſeiner
”Ehrlichkeit und ſeiner Einſicht unbeſchadet, inkonſe-
”quent ſeyn oder ſcheinen. Die Verbeſſerer der Reli-
”gion moͤgen immerhin ein zerrißnes Buch ſeyn, daß
”weder Titel noch Regiſter hat, und in welchem hin
”und wieder Blaͤtter fehlen; aber auf den vorhande-
”nen Blaͤttern ſtehen noͤthige, nuͤtzliche, vortrefflliche
”Sachen, und ich will dieſe Blaͤtter, ohne Zuſammen-
”hang, lieber haben, als Meenens Beweis der
”Ewigkeit der Hoͤllenſtrafen, und wenn dieß
”Buch noch ſo komplet waͤre.‛
Der Prediger ſchaute, mit ſtierem Blicke, und ver-
laͤngertem Angeſichte, dem Sebaldus gerade ins Ge-
ſicht, zog ſeinen Hut langſam ab, und ſagte, indem
er ſich gegen ihn neigte, mit einem Tone voll Nach-
druck und Wuͤrde:
‚Sie ſind alſo, wie ich merke, ein Goͤnner der
”neuern heterodoxen Theologen. Sie werden ver-
”muthlich alles, was dahin gehoͤrt, wohl uͤberlegt ha-
”ben; denn Herren Jhrer Art handeln niemals un-
”uͤberlegt. Sagen Sie mir alſo doch, was fuͤr ein
”Chri-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Nicolai, Friedrich: Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker. Bd. 2. Berlin u. a., 1775, S. 84. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nicolai_nothanker02_1775/90>, abgerufen am 17.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.