"wir haben auch einige sehr würdige Geistlichen, die "die Untersuchungen wichtiger Wahrheiten nicht für "Ketzerey halten, aber das Publikum ist nicht völlig "so tolerant. Die Einwohner von Berlin sind so we- "nig, als die Einwohner irgend einer andern Stadt, "geneigt, Neuerungen in der Lehre machen zu lassen.'
,Das sollte ich kaum denken, wenigstens stehen sie "auswärts in einem ganz andern Rufe. Man glaubt "vielmehr, Berlin sey voll von Atheisten, Deisten, "Naturalisten, und wer weiß von was für isten mehr. "Man glaubt, jeder dürfe sich daselbst in Religions- "sachen, was er wolle, erlauben. Jch selbst, ob ich "gleich nicht lange in Berlin bin, habe zuweilen zu- "fälliger Weise Reden gehört, die man anderer Orten "vielleicht nicht so frey hätte führen dürfen, ohne "öffentliche Ahndung zu befürchten.'
,Nein! öffentliche Ahndung hier freylich nicht. Un- "sere Regierung hat schon seit langen Jahren klüglich "eingesehen, daß man die Meinungen der Menschen "von Religionssachen deshalb nicht bessert, wenn man "sie einschränkt und ahndet, sondern, vielmehr da- "durch jede Thorheit eines Eiferers oder Schwärmers "zu einer wichtigen Sache macht. Sie verfolgt nie- "mand wegen Meinungen. Daher machen gute und "schlechte Meinungen in Berlin überhaupt nicht so
"viel
”wir haben auch einige ſehr wuͤrdige Geiſtlichen, die ”die Unterſuchungen wichtiger Wahrheiten nicht fuͤr ”Ketzerey halten, aber das Publikum iſt nicht voͤllig ”ſo tolerant. Die Einwohner von Berlin ſind ſo we- ”nig, als die Einwohner irgend einer andern Stadt, ”geneigt, Neuerungen in der Lehre machen zu laſſen.‛
‚Das ſollte ich kaum denken, wenigſtens ſtehen ſie ”auswaͤrts in einem ganz andern Rufe. Man glaubt ”vielmehr, Berlin ſey voll von Atheiſten, Deiſten, ”Naturaliſten, und wer weiß von was fuͤr iſten mehr. ”Man glaubt, jeder duͤrfe ſich daſelbſt in Religions- ”ſachen, was er wolle, erlauben. Jch ſelbſt, ob ich ”gleich nicht lange in Berlin bin, habe zuweilen zu- ”faͤlliger Weiſe Reden gehoͤrt, die man anderer Orten ”vielleicht nicht ſo frey haͤtte fuͤhren duͤrfen, ohne ”oͤffentliche Ahndung zu befuͤrchten.‛
‚Nein! oͤffentliche Ahndung hier freylich nicht. Un- ”ſere Regierung hat ſchon ſeit langen Jahren kluͤglich ”eingeſehen, daß man die Meinungen der Menſchen ”von Religionsſachen deshalb nicht beſſert, wenn man ”ſie einſchraͤnkt und ahndet, ſondern, vielmehr da- ”durch jede Thorheit eines Eiferers oder Schwaͤrmers ”zu einer wichtigen Sache macht. Sie verfolgt nie- ”mand wegen Meinungen. Daher machen gute und ”ſchlechte Meinungen in Berlin uͤberhaupt nicht ſo
”viel
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”wir haben auch einige ſehr wuͤrdige Geiſtlichen, die
”die Unterſuchungen wichtiger Wahrheiten nicht fuͤr
”Ketzerey halten, aber das Publikum iſt nicht voͤllig
”ſo tolerant. Die Einwohner von Berlin ſind ſo we-
”nig, als die Einwohner irgend einer andern Stadt,
”geneigt, Neuerungen in der Lehre machen zu laſſen.‛
‚Das ſollte ich kaum denken, wenigſtens ſtehen ſie
”auswaͤrts in einem ganz andern Rufe. Man glaubt
”vielmehr, Berlin ſey voll von Atheiſten, Deiſten,
”Naturaliſten, und wer weiß von was fuͤr iſten mehr.
”Man glaubt, jeder duͤrfe ſich daſelbſt in Religions-
”ſachen, was er wolle, erlauben. Jch ſelbſt, ob ich
”gleich nicht lange in Berlin bin, habe zuweilen zu-
”faͤlliger Weiſe Reden gehoͤrt, die man anderer Orten
”vielleicht nicht ſo frey haͤtte fuͤhren duͤrfen, ohne
”oͤffentliche Ahndung zu befuͤrchten.‛
‚Nein! oͤffentliche Ahndung hier freylich nicht. Un-
”ſere Regierung hat ſchon ſeit langen Jahren kluͤglich
”eingeſehen, daß man die Meinungen der Menſchen
”von Religionsſachen deshalb nicht beſſert, wenn man
”ſie einſchraͤnkt und ahndet, ſondern, vielmehr da-
”durch jede Thorheit eines Eiferers oder Schwaͤrmers
”zu einer wichtigen Sache macht. Sie verfolgt nie-
”mand wegen Meinungen. Daher machen gute und
”ſchlechte Meinungen in Berlin uͤberhaupt nicht ſo
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Nicolai, Friedrich: Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker. Bd. 2. Berlin u. a., 1775, S. 72. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nicolai_nothanker02_1775/78>, abgerufen am 16.02.2025.
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