Sebaldus schauete ungeduldig einigemal rechts und links um sich.
,O Stadt! fuhr der Pietist fort: die du bist wie "Sodom und Gomorrha, wie bald wird Gott seinen "feurigen Schweselregen über dich ergießen! Und dieß "wäre schon lange geschehen, wenn nicht wenige Ge- "rechten in dir wären, um derentwillen dich der Herr "schonet! Ja, mein Freund! (hier fieng er an zu wei- "nen,) es giebt hier einige erwählte Seelen, die bis "über den Kopf in den Wunden des Lammes sitzen, "die zu einem Pünktlein, zu einem Stänblein, zu "einem Nichts geworden sind, und sich nur in das "blutige Lamm verliebt haben, diese halten noch die "verworfene Stadt, daß sie nicht fällt.'
Jndem er dieses sagte, blieb er plötzlich an einer Ecke stehen, zog des Sebaldus alten Ueberrock aus, und gab ihn zurück. Sebaldus bat ihn, denselben so lange zu behalten, als er ihn brauchte. ,Nein, "sagte er, ich trete nunmehr bey einem lieben Bruder "ab. Wie wird dem sein Herz seyn, wenn er mich in "meiner Nacktheit siehet, wenn er siehet, was ich "um des Heilandes willen gelitten habe. Er wird "dann thun, so viel ihn der Heiland heißt.' Hier drückte er dem Sebaldus die Hand, wünschte ihm den Segen des Herrn, verließ ihn, klopfte an ein
vier-
Sebaldus ſchauete ungeduldig einigemal rechts und links um ſich.
‚O Stadt! fuhr der Pietiſt fort: die du biſt wie ”Sodom und Gomorrha, wie bald wird Gott ſeinen ”feurigen Schweſelregen uͤber dich ergießen! Und dieß ”waͤre ſchon lange geſchehen, wenn nicht wenige Ge- ”rechten in dir waͤren, um derentwillen dich der Herr ”ſchonet! Ja, mein Freund! (hier fieng er an zu wei- ”nen,) es giebt hier einige erwaͤhlte Seelen, die bis ”uͤber den Kopf in den Wunden des Lammes ſitzen, ”die zu einem Puͤnktlein, zu einem Staͤnblein, zu ”einem Nichts geworden ſind, und ſich nur in das ”blutige Lamm verliebt haben, dieſe halten noch die ”verworfene Stadt, daß ſie nicht faͤllt.‛
Jndem er dieſes ſagte, blieb er ploͤtzlich an einer Ecke ſtehen, zog des Sebaldus alten Ueberrock aus, und gab ihn zuruͤck. Sebaldus bat ihn, denſelben ſo lange zu behalten, als er ihn brauchte. ‚Nein, ”ſagte er, ich trete nunmehr bey einem lieben Bruder ”ab. Wie wird dem ſein Herz ſeyn, wenn er mich in ”meiner Nacktheit ſiehet, wenn er ſiehet, was ich ”um des Heilandes willen gelitten habe. Er wird ”dann thun, ſo viel ihn der Heiland heißt.‛ Hier druͤckte er dem Sebaldus die Hand, wuͤnſchte ihm den Segen des Herrn, verließ ihn, klopfte an ein
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Sebaldus ſchauete ungeduldig einigemal rechts
und links um ſich.
‚O Stadt! fuhr der Pietiſt fort: die du biſt wie
”Sodom und Gomorrha, wie bald wird Gott ſeinen
”feurigen Schweſelregen uͤber dich ergießen! Und dieß
”waͤre ſchon lange geſchehen, wenn nicht wenige Ge-
”rechten in dir waͤren, um derentwillen dich der Herr
”ſchonet! Ja, mein Freund! (hier fieng er an zu wei-
”nen,) es giebt hier einige erwaͤhlte Seelen, die bis
”uͤber den Kopf in den Wunden des Lammes ſitzen,
”die zu einem Puͤnktlein, zu einem Staͤnblein, zu
”einem Nichts geworden ſind, und ſich nur in das
”blutige Lamm verliebt haben, dieſe halten noch die
”verworfene Stadt, daß ſie nicht faͤllt.‛
Jndem er dieſes ſagte, blieb er ploͤtzlich an einer
Ecke ſtehen, zog des Sebaldus alten Ueberrock aus,
und gab ihn zuruͤck. Sebaldus bat ihn, denſelben
ſo lange zu behalten, als er ihn brauchte. ‚Nein,
”ſagte er, ich trete nunmehr bey einem lieben Bruder
”ab. Wie wird dem ſein Herz ſeyn, wenn er mich in
”meiner Nacktheit ſiehet, wenn er ſiehet, was ich
”um des Heilandes willen gelitten habe. Er wird
”dann thun, ſo viel ihn der Heiland heißt.‛ Hier
druͤckte er dem Sebaldus die Hand, wuͤnſchte ihm
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Nicolai, Friedrich: Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker. Bd. 2. Berlin u. a., 1775, S. 30. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nicolai_nothanker02_1775/36>, abgerufen am 05.07.2024.
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