Gerade das Selbstbewusstsein also, und mithin das selbst- bewusste Wollen, entwickelt sich allein in und mit der Gemein- schaft von Bewusstsein und Bewusstsein, die primärerweise Willensgemeinschaft ist. Gerade in der tiefsten Einigkeit mit dem Andern unterscheide ich mich von ihm und finde mich selbst. In jedem ist ein Unendliches; dessen werde ich in mir selbst erst inne, indem ich die Unendlichkeit im Andern ahne. Je tiefer wir uns gegenseitig kennen (was immer schon eine tiefe Einigkeit voraussetzt), um so sicherer empfinden wir die Grenze, wo wir uns unterscheiden. Das gilt allgemein, und es gilt besonders vom praktischen Bewusstein, dem ja die Beziehung in die Unendlichkeit wesentlich ist.
Also muss vor allem die Theorie der Willenserziehung von der Voraussetzung des Lebens in der Gemeinschaft von Anfang an ausgehen und die Konsequenzen dieser Voraus- setzung auf Schritt und Tritt beachten. Auch darf es sich hierbei nicht bloss handeln um das Verhältnis des Einzelnen zum andern Einzelnen, sondern es fragt sich ferner nach seinem Verhältnis zur konstituierten menschlichen Gemeinschaft in ihren mancherlei Formen von der Familie bis zur Ge- meinde und dem Staat und schliesslich zur Menschheit. Die bildende Gemeinschaft der Einzelnen ist nur der einfachste Fall, nur gleichsam die Zelle oder ein engster Verband von Zellen in dem ganzen Organismus des menschlichen Gemein- schaftslebens, in dem zuletzt kein Einzelner und keine Gruppe Einzelner ihr Dasein und ihre Funktionsweise ganz für sich hat, sondern allein in Gemässheit ihrer Beziehung zum grössern Ganzen, zuletzt zur Menschheit. Der Einzelne und so auch die einzelne Gruppe lebt und wirkt in Kraft dieser Beziehung, auch ohne darum zu wissen; aber das entwickelte Bewusst- sein dieser Beziehung führt erst zu einem solchen Wirken auch des Einzelglieds und der Einzelgruppe, das der Gesund- heit seiner Richtung und damit des erspriesslichen Erfolges gewiss sein darf.
Das ist die Auffassung von der Aufgabe der Erziehungslehre, die wir in dem Titel Sozialpädagogik in Erinnerung halten möchten. Wir verstehen darunter also nicht einen abtrennbaren
Gerade das Selbstbewusstsein also, und mithin das selbst- bewusste Wollen, entwickelt sich allein in und mit der Gemein- schaft von Bewusstsein und Bewusstsein, die primärerweise Willensgemeinschaft ist. Gerade in der tiefsten Einigkeit mit dem Andern unterscheide ich mich von ihm und finde mich selbst. In jedem ist ein Unendliches; dessen werde ich in mir selbst erst inne, indem ich die Unendlichkeit im Andern ahne. Je tiefer wir uns gegenseitig kennen (was immer schon eine tiefe Einigkeit voraussetzt), um so sicherer empfinden wir die Grenze, wo wir uns unterscheiden. Das gilt allgemein, und es gilt besonders vom praktischen Bewusstein, dem ja die Beziehung in die Unendlichkeit wesentlich ist.
Also muss vor allem die Theorie der Willenserziehung von der Voraussetzung des Lebens in der Gemeinschaft von Anfang an ausgehen und die Konsequenzen dieser Voraus- setzung auf Schritt und Tritt beachten. Auch darf es sich hierbei nicht bloss handeln um das Verhältnis des Einzelnen zum andern Einzelnen, sondern es fragt sich ferner nach seinem Verhältnis zur konstituierten menschlichen Gemeinschaft in ihren mancherlei Formen von der Familie bis zur Ge- meinde und dem Staat und schliesslich zur Menschheit. Die bildende Gemeinschaft der Einzelnen ist nur der einfachste Fall, nur gleichsam die Zelle oder ein engster Verband von Zellen in dem ganzen Organismus des menschlichen Gemein- schaftslebens, in dem zuletzt kein Einzelner und keine Gruppe Einzelner ihr Dasein und ihre Funktionsweise ganz für sich hat, sondern allein in Gemässheit ihrer Beziehung zum grössern Ganzen, zuletzt zur Menschheit. Der Einzelne und so auch die einzelne Gruppe lebt und wirkt in Kraft dieser Beziehung, auch ohne darum zu wissen; aber das entwickelte Bewusst- sein dieser Beziehung führt erst zu einem solchen Wirken auch des Einzelglieds und der Einzelgruppe, das der Gesund- heit seiner Richtung und damit des erspriesslichen Erfolges gewiss sein darf.
Das ist die Auffassung von der Aufgabe der Erziehungslehre, die wir in dem Titel Sozialpädagogik in Erinnerung halten möchten. Wir verstehen darunter also nicht einen abtrennbaren
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Gerade das Selbstbewusstsein also, und mithin das selbst-
bewusste Wollen, entwickelt sich allein in und mit der Gemein-
schaft von Bewusstsein und Bewusstsein, die primärerweise
Willensgemeinschaft ist. Gerade in der tiefsten Einigkeit mit
dem Andern unterscheide ich mich von ihm und finde mich
selbst. In jedem ist ein Unendliches; dessen werde ich in
mir selbst erst inne, indem ich die Unendlichkeit im Andern
ahne. Je tiefer wir uns gegenseitig kennen (was immer schon
eine tiefe Einigkeit voraussetzt), um so sicherer empfinden wir
die Grenze, wo wir uns unterscheiden. Das gilt allgemein,
und es gilt besonders vom praktischen Bewusstein, dem ja
die Beziehung in die Unendlichkeit wesentlich ist.
Also muss vor allem die Theorie der Willenserziehung
von der Voraussetzung des Lebens in der Gemeinschaft von
Anfang an ausgehen und die Konsequenzen dieser Voraus-
setzung auf Schritt und Tritt beachten. Auch darf es sich
hierbei nicht bloss handeln um das Verhältnis des Einzelnen
zum andern Einzelnen, sondern es fragt sich ferner nach
seinem Verhältnis zur konstituierten menschlichen Gemeinschaft
in ihren mancherlei Formen von der Familie bis zur Ge-
meinde und dem Staat und schliesslich zur Menschheit. Die
bildende Gemeinschaft der Einzelnen ist nur der einfachste
Fall, nur gleichsam die Zelle oder ein engster Verband von
Zellen in dem ganzen Organismus des menschlichen Gemein-
schaftslebens, in dem zuletzt kein Einzelner und keine Gruppe
Einzelner ihr Dasein und ihre Funktionsweise ganz für sich
hat, sondern allein in Gemässheit ihrer Beziehung zum grössern
Ganzen, zuletzt zur Menschheit. Der Einzelne und so auch
die einzelne Gruppe lebt und wirkt in Kraft dieser Beziehung,
auch ohne darum zu wissen; aber das entwickelte Bewusst-
sein dieser Beziehung führt erst zu einem solchen Wirken
auch des Einzelglieds und der Einzelgruppe, das der Gesund-
heit seiner Richtung und damit des erspriesslichen Erfolges
gewiss sein darf.
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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 78. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/94>, abgerufen am 18.12.2024.
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