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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899.

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wenn man auf dieser Voraussetzung einmal zu verharren ent-
schlossen ist, die selbständige Bedeutung des Willens ganz
zu leugnen. Statt dessen glaubten wir den sinnlichen Trieb
als blossen Spezialfall einer ganz allgemeinen Bewusstseins-
form zu erkennen. Tendenz ist an allem Bewusstseinsleben
innigst beteiligt; sie partizipiert mit besonders starkem Ein-
satz an dem Einheitsstreben der Erkenntnis, welches die Wurzel
aller Objektsetzung, auch der praktischen ist. Hält man das
fest, so kann man nichts Unbegreifliches mehr in der These
finden, dass der Wille damit allein, dass er das Gewollte als
Objekt setzt, die ihn vom willenlosen Trieb unterscheidende
Festigkeit d. i. beharrende Einheit der Bewusstseins-
richtung
, und damit die ihm eigene, der des willenlosen
Triebs unbedingt überlegene Energie erreicht. Wille ist so-
mit konzentrierter Trieb, konzentriert durch die einigende
Kraft des Bewusstseins, dieselbe, die die Objektsetzung
des Willens begründet. So ist die theoretische Objektvorstel-
lung immer noch Vorstellung, aber konzentrierte Vorstellung,
die sich eben dadurch von der schweifenden, subjektiven scharf
abhebt und den unbedingten Vorrang vor ihr behauptet.

So ist es also nicht bloss ein gewagtes Paradoxon des
platonischen Sokrates: dass praktische Einsicht (phronesis), wo
sie im Menschen wirklich vorhanden, notwendig das Herrschende
ist und keineswegs (wie man also damals schon verfocht) von
Lust, Unlust, Zorn, Begier, Abneigung, kurz den "sinnlichen"
Trieben wie ein Sklave hin und her gezerrt wird. Sie be-
hauptet die Herrschaft (so erklärt es Plato), indem sie die
Macht des Scheins bewältigt, der uns in die Irre treibt und
zu fortwährendem Selbstwiderspruch nötigt, und der Seele
Ruhe schafft im Verharren bei dem Wahren; d. i. durch
Konzentration im Bewusstsein. Darin liegt nichts Unmögliches
oder auch nur Schwieriges, nichts was aus dem sonst bekann-
ten Zusammenhang der psychischen Vorgänge herausfiele.

Und so stimmt es vor allem mit den Thatsachen überein.
Es ist doch nichts so Unbekanntes oder Unerhörtes, dass dem
Menschen, der überhaupt einen Willen hat, die Sache, worin
immer er sie sehen mag, mehr gilt als die Person, auch die

wenn man auf dieser Voraussetzung einmal zu verharren ent-
schlossen ist, die selbständige Bedeutung des Willens ganz
zu leugnen. Statt dessen glaubten wir den sinnlichen Trieb
als blossen Spezialfall einer ganz allgemeinen Bewusstseins-
form zu erkennen. Tendenz ist an allem Bewusstseinsleben
innigst beteiligt; sie partizipiert mit besonders starkem Ein-
satz an dem Einheitsstreben der Erkenntnis, welches die Wurzel
aller Objektsetzung, auch der praktischen ist. Hält man das
fest, so kann man nichts Unbegreifliches mehr in der These
finden, dass der Wille damit allein, dass er das Gewollte als
Objekt setzt, die ihn vom willenlosen Trieb unterscheidende
Festigkeit d. i. beharrende Einheit der Bewusstseins-
richtung
, und damit die ihm eigene, der des willenlosen
Triebs unbedingt überlegene Energie erreicht. Wille ist so-
mit konzentrierter Trieb, konzentriert durch die einigende
Kraft des Bewusstseins, dieselbe, die die Objektsetzung
des Willens begründet. So ist die theoretische Objektvorstel-
lung immer noch Vorstellung, aber konzentrierte Vorstellung,
die sich eben dadurch von der schweifenden, subjektiven scharf
abhebt und den unbedingten Vorrang vor ihr behauptet.

So ist es also nicht bloss ein gewagtes Paradoxon des
platonischen Sokrates: dass praktische Einsicht (φρόνησις), wo
sie im Menschen wirklich vorhanden, notwendig das Herrschende
ist und keineswegs (wie man also damals schon verfocht) von
Lust, Unlust, Zorn, Begier, Abneigung, kurz den „sinnlichen“
Trieben wie ein Sklave hin und her gezerrt wird. Sie be-
hauptet die Herrschaft (so erklärt es Plato), indem sie die
Macht des Scheins bewältigt, der uns in die Irre treibt und
zu fortwährendem Selbstwiderspruch nötigt, und der Seele
Ruhe schafft im Verharren bei dem Wahren; d. i. durch
Konzentration im Bewusstsein. Darin liegt nichts Unmögliches
oder auch nur Schwieriges, nichts was aus dem sonst bekann-
ten Zusammenhang der psychischen Vorgänge herausfiele.

Und so stimmt es vor allem mit den Thatsachen überein.
Es ist doch nichts so Unbekanntes oder Unerhörtes, dass dem
Menschen, der überhaupt einen Willen hat, die Sache, worin
immer er sie sehen mag, mehr gilt als die Person, auch die

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[60/0076] wenn man auf dieser Voraussetzung einmal zu verharren ent- schlossen ist, die selbständige Bedeutung des Willens ganz zu leugnen. Statt dessen glaubten wir den sinnlichen Trieb als blossen Spezialfall einer ganz allgemeinen Bewusstseins- form zu erkennen. Tendenz ist an allem Bewusstseinsleben innigst beteiligt; sie partizipiert mit besonders starkem Ein- satz an dem Einheitsstreben der Erkenntnis, welches die Wurzel aller Objektsetzung, auch der praktischen ist. Hält man das fest, so kann man nichts Unbegreifliches mehr in der These finden, dass der Wille damit allein, dass er das Gewollte als Objekt setzt, die ihn vom willenlosen Trieb unterscheidende Festigkeit d. i. beharrende Einheit der Bewusstseins- richtung, und damit die ihm eigene, der des willenlosen Triebs unbedingt überlegene Energie erreicht. Wille ist so- mit konzentrierter Trieb, konzentriert durch die einigende Kraft des Bewusstseins, dieselbe, die die Objektsetzung des Willens begründet. So ist die theoretische Objektvorstel- lung immer noch Vorstellung, aber konzentrierte Vorstellung, die sich eben dadurch von der schweifenden, subjektiven scharf abhebt und den unbedingten Vorrang vor ihr behauptet. So ist es also nicht bloss ein gewagtes Paradoxon des platonischen Sokrates: dass praktische Einsicht (φρόνησις), wo sie im Menschen wirklich vorhanden, notwendig das Herrschende ist und keineswegs (wie man also damals schon verfocht) von Lust, Unlust, Zorn, Begier, Abneigung, kurz den „sinnlichen“ Trieben wie ein Sklave hin und her gezerrt wird. Sie be- hauptet die Herrschaft (so erklärt es Plato), indem sie die Macht des Scheins bewältigt, der uns in die Irre treibt und zu fortwährendem Selbstwiderspruch nötigt, und der Seele Ruhe schafft im Verharren bei dem Wahren; d. i. durch Konzentration im Bewusstsein. Darin liegt nichts Unmögliches oder auch nur Schwieriges, nichts was aus dem sonst bekann- ten Zusammenhang der psychischen Vorgänge herausfiele. Und so stimmt es vor allem mit den Thatsachen überein. Es ist doch nichts so Unbekanntes oder Unerhörtes, dass dem Menschen, der überhaupt einen Willen hat, die Sache, worin immer er sie sehen mag, mehr gilt als die Person, auch die

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Zitationshilfe: Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 60. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/76>, abgerufen am 22.11.2024.