Diese Ansicht, die zuerst überaus paradox erscheinen muss, da sie das jedem wohlbekannte Bewusstsein eines Strebens, als etwas Eigenes, überhaupt wegleugnet, hat dennoch, als Theorie, etwas Ueberredendes; und zwar, weil sie etwas that- sächlich Richtiges einschliesst. Es ist nämlich wirklich der Fall, dass Lust und Unlust einerseits, positives und negatives Streben andrerseits nicht bloss begrifflich eine genaue Analogie aufweisen und in dem gemeinsamen Moment eines annehmenden und ablehnenden, gleichsam bejahenden und verneinenden Ver- haltens zusammentreffen, sondern auch faktisch in der Weise sich entsprechen, dass sie sich, bloss auf verschiedener Stufe, eigentlich auf dieselben Objekte beziehen: dasselbe, was als Gegenwärtiges Gegenstand der Lust bezw. Unlust, wird, wenn nicht gegenwärtig, aber im Bereiche der Möglichkeit und gleichsam in Sicht befindlich, zum Gegenstand positiven oder negativen Strebens, und umgekehrt. Allein es bleibt immer dieser unüberbrückbare Unterschied: dass Lust und Unlust sich schlechterdings auf Gegenwärtiges -- auf Nichtgegen- wärtiges nur, indem es in der Vorstellung gegenwärtig ist, und als so gegenwärtig -- bezieht, Begehren und Widerstreben dagegen ebenso wesentlich auf Nichtgegenwärtiges und als Nichtgegenwärtiges (nicht als in der Vorstellung Vergegen- wärtigtes), das aber zum Gegenwärtigen werden (bezw. nicht werden) soll. Nun glaubt man vielleicht diese Seite der Sache durch das zweite Moment, die Vorstellung, gedeckt. Aber dabei wird übersehen, dass die praktische Vorstellung, von etwas als seinsollend oder nichtseinsollend, wurzelhaft ver- schieden ist von der bloss theoretischen Vorstellung, als wirk- lich oder vielleicht einmal wirklich werdend, oder überhaupt, wie wenn es wirklich wäre. Dies Sollen und Nichtsollen in der praktischen Vorstellung lässt sich nicht durch die blosse Vergegenwärtigung dessen, was möglicherweise eintreten wird, in der Vorstellung, auch nicht unter Mitvergegenwärti- gung der Lust oder Unlust, die es, wenn wirklich geworden, mit sich führen würde, erklären. Sondern es liegt in dem Sollen eine ganz eigene Positivität, gleichwertig, vielmehr überlegen der des wirklichen Seins (da es doch sich an dessen
Diese Ansicht, die zuerst überaus paradox erscheinen muss, da sie das jedem wohlbekannte Bewusstsein eines Strebens, als etwas Eigenes, überhaupt wegleugnet, hat dennoch, als Theorie, etwas Ueberredendes; und zwar, weil sie etwas that- sächlich Richtiges einschliesst. Es ist nämlich wirklich der Fall, dass Lust und Unlust einerseits, positives und negatives Streben andrerseits nicht bloss begrifflich eine genaue Analogie aufweisen und in dem gemeinsamen Moment eines annehmenden und ablehnenden, gleichsam bejahenden und verneinenden Ver- haltens zusammentreffen, sondern auch faktisch in der Weise sich entsprechen, dass sie sich, bloss auf verschiedener Stufe, eigentlich auf dieselben Objekte beziehen: dasselbe, was als Gegenwärtiges Gegenstand der Lust bezw. Unlust, wird, wenn nicht gegenwärtig, aber im Bereiche der Möglichkeit und gleichsam in Sicht befindlich, zum Gegenstand positiven oder negativen Strebens, und umgekehrt. Allein es bleibt immer dieser unüberbrückbare Unterschied: dass Lust und Unlust sich schlechterdings auf Gegenwärtiges — auf Nichtgegen- wärtiges nur, indem es in der Vorstellung gegenwärtig ist, und als so gegenwärtig — bezieht, Begehren und Widerstreben dagegen ebenso wesentlich auf Nichtgegenwärtiges und als Nichtgegenwärtiges (nicht als in der Vorstellung Vergegen- wärtigtes), das aber zum Gegenwärtigen werden (bezw. nicht werden) soll. Nun glaubt man vielleicht diese Seite der Sache durch das zweite Moment, die Vorstellung, gedeckt. Aber dabei wird übersehen, dass die praktische Vorstellung, von etwas als seinsollend oder nichtseinsollend, wurzelhaft ver- schieden ist von der bloss theoretischen Vorstellung, als wirk- lich oder vielleicht einmal wirklich werdend, oder überhaupt, wie wenn es wirklich wäre. Dies Sollen und Nichtsollen in der praktischen Vorstellung lässt sich nicht durch die blosse Vergegenwärtigung dessen, was möglicherweise eintreten wird, in der Vorstellung, auch nicht unter Mitvergegenwärti- gung der Lust oder Unlust, die es, wenn wirklich geworden, mit sich führen würde, erklären. Sondern es liegt in dem Sollen eine ganz eigene Positivität, gleichwertig, vielmehr überlegen der des wirklichen Seins (da es doch sich an dessen
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Diese Ansicht, die zuerst überaus paradox erscheinen muss,
da sie das jedem wohlbekannte Bewusstsein eines Strebens,
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sächlich Richtiges einschliesst. Es ist nämlich wirklich der
Fall, dass Lust und Unlust einerseits, positives und negatives
Streben andrerseits nicht bloss begrifflich eine genaue Analogie
aufweisen und in dem gemeinsamen Moment eines annehmenden
und ablehnenden, gleichsam bejahenden und verneinenden Ver-
haltens zusammentreffen, sondern auch faktisch in der Weise
sich entsprechen, dass sie sich, bloss auf verschiedener Stufe,
eigentlich auf dieselben Objekte beziehen: dasselbe, was als
Gegenwärtiges Gegenstand der Lust bezw. Unlust, wird, wenn
nicht gegenwärtig, aber im Bereiche der Möglichkeit und
gleichsam in Sicht befindlich, zum Gegenstand positiven oder
negativen Strebens, und umgekehrt. Allein es bleibt immer
dieser unüberbrückbare Unterschied: dass Lust und Unlust
sich schlechterdings auf Gegenwärtiges — auf Nichtgegen-
wärtiges nur, indem es in der Vorstellung gegenwärtig ist, und
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dagegen ebenso wesentlich auf Nichtgegenwärtiges und als
Nichtgegenwärtiges (nicht als in der Vorstellung Vergegen-
wärtigtes), das aber zum Gegenwärtigen werden (bezw. nicht
werden) soll. Nun glaubt man vielleicht diese Seite der Sache
durch das zweite Moment, die Vorstellung, gedeckt. Aber
dabei wird übersehen, dass die praktische Vorstellung, von
etwas als seinsollend oder nichtseinsollend, wurzelhaft ver-
schieden ist von der bloss theoretischen Vorstellung, als wirk-
lich oder vielleicht einmal wirklich werdend, oder überhaupt,
wie wenn es wirklich wäre. Dies Sollen und Nichtsollen
in der praktischen Vorstellung lässt sich nicht durch die blosse
Vergegenwärtigung dessen, was möglicherweise eintreten
wird, in der Vorstellung, auch nicht unter Mitvergegenwärti-
gung der Lust oder Unlust, die es, wenn wirklich geworden,
mit sich führen würde, erklären. Sondern es liegt in dem
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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 51. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/67>, abgerufen am 28.11.2024.
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