sich Zweck ist, d. i. sein soll. Ist dieser scheinbar das Letzte, Fernste, nämlich auf dem vor uns liegenden Wege der Er- fahrung, ja in Wahrheit, da Erfahrung kein Letztes kennt, ganz über sie hinaus, so ist er dagegen das allem voraus Ge- wollte. Denn das Mittel wird nur gewollt im Hinblick auf den Zweck, den nächsten und ferneren u. s. f. bis zum letzten. Deshalb hatte Plato recht, die Idee einerseits das Ende oder Ziel (telos), andrerseits aber und im letzten Verstande den An- fang, das Prinzip (arkhe) zu nennen, jenes, wo er von der Er- fahrung aus bis zu ihr zurück fragt (so im "Gastmahl"), dieses, wo es sich darum handelt, den Ausgangspunkt deduktiver Begründung zu nennen (im "Phädo"). Sie ist ihm die Grund- lage (upothesis), die nichts Andres wiederum zur Grundlage hat (anupotheton). Genau zu dieser Auffassung von der Idee hat unsre Ableitung geführt. Und das ist nun unsre These: dass nichts Andres als die formale Einheit der Idee, nämlich des unbedingt Gesetzlichen, der Endzweck ist, den alles Wollen als letztbestimmenden Grund, als Prinzip voraussetzt.
Man hat geglaubt dem Zwange der Folgerung auf die Idee durch die Annahme auszuweichen, dass es irgend einen letzten, alle andern überragenden und begründenden Zweck gebe, der naturnotwendig gewollt werde, sei es nun Lebenserhaltung, oder Lust, Befriedigung. Natur zwinge uns, unsere Selbsterhaltung, oder auch die Erhaltung unseres Geschlechts zu wollen, oder die grösste erreichbare eigene oder allgemeine Befriedigung, "das grösste Glück der grössten Zahl" u. s. w.
Allein der empirische Beweis, dass wir unter allen Um- ständen mit unserem Wollen und Thun eines dieser Ziele er- strebten, ist nicht geführt und kann nicht geführt werden. Vor allem: Niemand will thatsächlich Existenz überhaupt, oder Lust überhaupt, sondern allemal eine bestimmte Existenz, eine bestimmte Lust. Bei sehr vielen Willensakten aber ist uns überhaupt keine Beziehung bewusst sei es auf Lebens- erhaltung oder auf eine zu erreichende besondere Befriedigung oder zu überwindende bezw. zu vermeidende Unbefriedigung. Zwar das unterliegt keinem Zweifel, dass jedes ungestillte Be-
sich Zweck ist, d. i. sein soll. Ist dieser scheinbar das Letzte, Fernste, nämlich auf dem vor uns liegenden Wege der Er- fahrung, ja in Wahrheit, da Erfahrung kein Letztes kennt, ganz über sie hinaus, so ist er dagegen das allem voraus Ge- wollte. Denn das Mittel wird nur gewollt im Hinblick auf den Zweck, den nächsten und ferneren u. s. f. bis zum letzten. Deshalb hatte Plato recht, die Idee einerseits das Ende oder Ziel (τέλος), andrerseits aber und im letzten Verstande den An- fang, das Prinzip (ἀϱχή) zu nennen, jenes, wo er von der Er- fahrung aus bis zu ihr zurück fragt (so im „Gastmahl“), dieses, wo es sich darum handelt, den Ausgangspunkt deduktiver Begründung zu nennen (im „Phädo“). Sie ist ihm die Grund- lage (ὑπόϑεσις), die nichts Andres wiederum zur Grundlage hat (ἀνυπόϑετον). Genau zu dieser Auffassung von der Idee hat unsre Ableitung geführt. Und das ist nun unsre These: dass nichts Andres als die formale Einheit der Idee, nämlich des unbedingt Gesetzlichen, der Endzweck ist, den alles Wollen als letztbestimmenden Grund, als Prinzip voraussetzt.
Man hat geglaubt dem Zwange der Folgerung auf die Idee durch die Annahme auszuweichen, dass es irgend einen letzten, alle andern überragenden und begründenden Zweck gebe, der naturnotwendig gewollt werde, sei es nun Lebenserhaltung, oder Lust, Befriedigung. Natur zwinge uns, unsere Selbsterhaltung, oder auch die Erhaltung unseres Geschlechts zu wollen, oder die grösste erreichbare eigene oder allgemeine Befriedigung, „das grösste Glück der grössten Zahl“ u. s. w.
Allein der empirische Beweis, dass wir unter allen Um- ständen mit unserem Wollen und Thun eines dieser Ziele er- strebten, ist nicht geführt und kann nicht geführt werden. Vor allem: Niemand will thatsächlich Existenz überhaupt, oder Lust überhaupt, sondern allemal eine bestimmte Existenz, eine bestimmte Lust. Bei sehr vielen Willensakten aber ist uns überhaupt keine Beziehung bewusst sei es auf Lebens- erhaltung oder auf eine zu erreichende besondere Befriedigung oder zu überwindende bezw. zu vermeidende Unbefriedigung. Zwar das unterliegt keinem Zweifel, dass jedes ungestillte Be-
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sich Zweck ist, d. i. sein soll. Ist dieser scheinbar das Letzte,
Fernste, nämlich auf dem vor uns liegenden Wege der Er-
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ganz über sie hinaus, so ist er dagegen das allem voraus Ge-
wollte. Denn das Mittel wird nur gewollt im Hinblick auf
den Zweck, den nächsten und ferneren u. s. f. bis zum letzten.
Deshalb hatte Plato recht, die Idee einerseits das Ende oder
Ziel (τέλος), andrerseits aber und im letzten Verstande den An-
fang, das Prinzip (ἀϱχή) zu nennen, jenes, wo er von der Er-
fahrung aus bis zu ihr zurück fragt (so im „Gastmahl“), dieses,
wo es sich darum handelt, den Ausgangspunkt deduktiver
Begründung zu nennen (im „Phädo“). Sie ist ihm die Grund-
lage (ὑπόϑεσις), die nichts Andres wiederum zur Grundlage
hat (ἀνυπόϑετον). Genau zu dieser Auffassung von der Idee
hat unsre Ableitung geführt. Und das ist nun unsre These:
dass nichts Andres als die formale Einheit der Idee, nämlich
des unbedingt Gesetzlichen, der Endzweck ist, den alles Wollen
als letztbestimmenden Grund, als Prinzip voraussetzt.
Man hat geglaubt dem Zwange der Folgerung auf die
Idee durch die Annahme auszuweichen, dass es irgend einen
letzten, alle andern überragenden und begründenden Zweck
gebe, der naturnotwendig gewollt werde, sei es nun
Lebenserhaltung, oder Lust, Befriedigung. Natur
zwinge uns, unsere Selbsterhaltung, oder auch die Erhaltung
unseres Geschlechts zu wollen, oder die grösste erreichbare
eigene oder allgemeine Befriedigung, „das grösste Glück der
grössten Zahl“ u. s. w.
Allein der empirische Beweis, dass wir unter allen Um-
ständen mit unserem Wollen und Thun eines dieser Ziele er-
strebten, ist nicht geführt und kann nicht geführt werden.
Vor allem: Niemand will thatsächlich Existenz überhaupt,
oder Lust überhaupt, sondern allemal eine bestimmte Existenz,
eine bestimmte Lust. Bei sehr vielen Willensakten aber ist
uns überhaupt keine Beziehung bewusst sei es auf Lebens-
erhaltung oder auf eine zu erreichende besondere Befriedigung
oder zu überwindende bezw. zu vermeidende Unbefriedigung.
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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 40. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/56>, abgerufen am 22.11.2024.
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