Natur als vollkommene Einheit; aber dieser Gedanke geht über die reine Thatsächlichkeit, und über die allein berechtigte Methode der Thatsachenforschung, die Erfahrung, ganz hin- aus. Es ist immer noch Natur, was man so denkt; aber es ist nicht mehr Naturerkenntnis, sondern bloss der ideale Ent- wurf einer Natur, wie sie in Vollständigkeit erkannt sein würde -- wäre nur diese Vollständigkeit der Erkenntnis metho- disch erreichbar.
Es kann also nicht glücken, Gesetze des Wollens in Natur- gesetzen zu gründen, Naturgesetzen der Lust und Unlust etwa, oder des Begehrens. Denn was man auch immer als Beweg- kraft des Willens ansetzen mag, den Lusttrieb, den Trieb überhaupt, oder was man sonst aufstelle, in jedem Falle denkt man diese Bewegkraft analog einem mechanischen Moment, gegeben im Anfangspunkt einer psychischen Veränderung und diese ursachlich bestimmend; bewirkend, dass aus einer ge- gebenen inneren Lage eine andere wird. Man denkt den Ver- lauf des Geschehens vom gegebenen Anfang bis zu einem ge- dachten Endpunkt, wie in aller Verursachung, determiniert durch die Gesamtheit der Momente, die im Anfangspunkte dieses Geschehens gegeben waren. Der Gedanke des Zwecks ist hiervon seinem ganzen Inhalt nach verschieden. In ihm wird vielmehr der Endpunkt einer Veränderungsreihe gedacht als durch uns voraus in Freiheit bestimmt, und sodann rück- wärts bestimmend für die Reihe der Veränderungen, für den Weg, der vom gegebenen Anfangspunkt zu diesem gedachten Endpunkt zu beschreiben sei. Voraussetzung dazu ist aber, dass der gegebene Anfangspunkt, wenn auch etwa an sich, doch nicht für unser Denken die zureichenden Bestim- mungsgründe für den folgenden Verlauf enthalte. Das Problem des Sollens ist demnach präzis so zu stellen: Wodurch ist der Endpunkt bestimmt, was determiniert meinen Gedanken, das und das solle sein, gerade sofern er mir nicht determiniert ist durch meine Kenntnis oder Präsumtion eines ursachlichen Zu- sammenhanges, gemäss welchem der zweite Moment vom ersten aus voraus erkennbar wäre? Was determiniert meinen Gedan- ken, das heisst aber wiederum nicht: welche psychischen
Natur als vollkommene Einheit; aber dieser Gedanke geht über die reine Thatsächlichkeit, und über die allein berechtigte Methode der Thatsachenforschung, die Erfahrung, ganz hin- aus. Es ist immer noch Natur, was man so denkt; aber es ist nicht mehr Naturerkenntnis, sondern bloss der ideale Ent- wurf einer Natur, wie sie in Vollständigkeit erkannt sein würde — wäre nur diese Vollständigkeit der Erkenntnis metho- disch erreichbar.
Es kann also nicht glücken, Gesetze des Wollens in Natur- gesetzen zu gründen, Naturgesetzen der Lust und Unlust etwa, oder des Begehrens. Denn was man auch immer als Beweg- kraft des Willens ansetzen mag, den Lusttrieb, den Trieb überhaupt, oder was man sonst aufstelle, in jedem Falle denkt man diese Bewegkraft analog einem mechanischen Moment, gegeben im Anfangspunkt einer psychischen Veränderung und diese ursachlich bestimmend; bewirkend, dass aus einer ge- gebenen inneren Lage eine andere wird. Man denkt den Ver- lauf des Geschehens vom gegebenen Anfang bis zu einem ge- dachten Endpunkt, wie in aller Verursachung, determiniert durch die Gesamtheit der Momente, die im Anfangspunkte dieses Geschehens gegeben waren. Der Gedanke des Zwecks ist hiervon seinem ganzen Inhalt nach verschieden. In ihm wird vielmehr der Endpunkt einer Veränderungsreihe gedacht als durch uns voraus in Freiheit bestimmt, und sodann rück- wärts bestimmend für die Reihe der Veränderungen, für den Weg, der vom gegebenen Anfangspunkt zu diesem gedachten Endpunkt zu beschreiben sei. Voraussetzung dazu ist aber, dass der gegebene Anfangspunkt, wenn auch etwa an sich, doch nicht für unser Denken die zureichenden Bestim- mungsgründe für den folgenden Verlauf enthalte. Das Problem des Sollens ist demnach präzis so zu stellen: Wodurch ist der Endpunkt bestimmt, was determiniert meinen Gedanken, das und das solle sein, gerade sofern er mir nicht determiniert ist durch meine Kenntnis oder Präsumtion eines ursachlichen Zu- sammenhanges, gemäss welchem der zweite Moment vom ersten aus voraus erkennbar wäre? Was determiniert meinen Gedan- ken, das heisst aber wiederum nicht: welche psychischen
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Natur als vollkommene Einheit; aber dieser Gedanke geht
über die reine Thatsächlichkeit, und über die allein berechtigte
Methode der Thatsachenforschung, die Erfahrung, ganz hin-
aus. Es ist immer noch Natur, was man so denkt; aber es
ist nicht mehr Naturerkenntnis, sondern bloss der ideale Ent-
wurf einer Natur, wie sie in Vollständigkeit erkannt sein
würde — wäre nur diese Vollständigkeit der Erkenntnis metho-
disch erreichbar.
Es kann also nicht glücken, Gesetze des Wollens in Natur-
gesetzen zu gründen, Naturgesetzen der Lust und Unlust etwa,
oder des Begehrens. Denn was man auch immer als Beweg-
kraft des Willens ansetzen mag, den Lusttrieb, den Trieb
überhaupt, oder was man sonst aufstelle, in jedem Falle denkt
man diese Bewegkraft analog einem mechanischen Moment,
gegeben im Anfangspunkt einer psychischen Veränderung und
diese ursachlich bestimmend; bewirkend, dass aus einer ge-
gebenen inneren Lage eine andere wird. Man denkt den Ver-
lauf des Geschehens vom gegebenen Anfang bis zu einem ge-
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dieses Geschehens gegeben waren. Der Gedanke des Zwecks
ist hiervon seinem ganzen Inhalt nach verschieden. In ihm
wird vielmehr der Endpunkt einer Veränderungsreihe gedacht
als durch uns voraus in Freiheit bestimmt, und sodann rück-
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Weg, der vom gegebenen Anfangspunkt zu diesem gedachten
Endpunkt zu beschreiben sei. Voraussetzung dazu ist aber,
dass der gegebene Anfangspunkt, wenn auch etwa an sich,
doch nicht für unser Denken die zureichenden Bestim-
mungsgründe für den folgenden Verlauf enthalte. Das Problem
des Sollens ist demnach präzis so zu stellen: Wodurch ist der
Endpunkt bestimmt, was determiniert meinen Gedanken, das
und das solle sein, gerade sofern er mir nicht determiniert ist
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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 35. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/51>, abgerufen am 30.01.2025.
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