ersetzt; aber auch sie selbst ist durch keinen der andern Faktoren ersetzlich; sondern im Verein mit ihnen allen erfüllt sie noch eine eigentümliche und wichtige Aufgabe: die sittliche Idee, die sonst nur als ungreifbar fernes Ziel dastände, zum unmittelbarsten, innerlichsten Leben des Individuums in Be- ziehung zu setzen, ihm nah und gegenwärtig zu halten, und so seinem Gemüt eine stetige und gleichmässige Erwärmung für das Gute mitzuteilen, die die sittliche Entschliessung auch im schwersten Fall aus voller Seele fliessen und sie die Seligkeit des Glaubens nicht vermissen lässt, ohne die in den ernsten Erschütterungen des Lebens auch der Starke vielleicht nicht aufrecht bliebe. Das ist doch, was man der Religion (in sitt- licher Beziehung) zuschreibt; und wir glauben nicht, dass sie das weniger vermag, wenn sie sich auf ihre rein menschliche Grundlage zurückbesinnt und mit allem Menschlichen in reine Harmonie zu treten sich entschliesst, statt dass sie entweder, in einseitiger Stärke entwickelt, den Menschen im Menschen er- tötet, oder aber als Trug des Gemüts erklärt und zu beklagens- werter Verarmung aus der Seele mit Stumpf und Stiel aus- gerottet wird.
Religion, das kann nicht verkannt werden, ist in den lebenskräftigsten Völkern oder doch in den lebenskräftigsten Schichten dieser Völker von sehr geschwächtem, fast ist man versucht zu sagen, von keinem merklichen Einfluss mehr. Hat sie also ihre Rolle ausgespielt? Sofern es sich um die Religion der Transzendenz handelt, zögere ich nicht die Frage zu be- jahen. Aber ihr Platz ist leer, und er kann nicht leer bleiben. Der Mensch lebt nicht vom Brote der Vernunft allein, so wenig er dieser gesunden Kost entbehren kann. Er bedarf noch der Religion, und wenn die bisherige ihm nicht mehr genügen kann, so wird er sich eine neue, seinem gereifteren Stande angemessene schaffen. Wir möchten glauben, dass die alte Religion der notwendigen Umbildung an sich fähig ist, und wir meinen auch zu beobachten, dass man sich dieser Er- kenntnis von beiden Seiten, wenn auch sehr langsam, nähert. Doch ist es zwecklos, darüber zu grübeln, wie künftig einmal der Mensch sich seine Religion gestalten wird. Es ist wider-
ersetzt; aber auch sie selbst ist durch keinen der andern Faktoren ersetzlich; sondern im Verein mit ihnen allen erfüllt sie noch eine eigentümliche und wichtige Aufgabe: die sittliche Idee, die sonst nur als ungreifbar fernes Ziel dastände, zum unmittelbarsten, innerlichsten Leben des Individuums in Be- ziehung zu setzen, ihm nah und gegenwärtig zu halten, und so seinem Gemüt eine stetige und gleichmässige Erwärmung für das Gute mitzuteilen, die die sittliche Entschliessung auch im schwersten Fall aus voller Seele fliessen und sie die Seligkeit des Glaubens nicht vermissen lässt, ohne die in den ernsten Erschütterungen des Lebens auch der Starke vielleicht nicht aufrecht bliebe. Das ist doch, was man der Religion (in sitt- licher Beziehung) zuschreibt; und wir glauben nicht, dass sie das weniger vermag, wenn sie sich auf ihre rein menschliche Grundlage zurückbesinnt und mit allem Menschlichen in reine Harmonie zu treten sich entschliesst, statt dass sie entweder, in einseitiger Stärke entwickelt, den Menschen im Menschen er- tötet, oder aber als Trug des Gemüts erklärt und zu beklagens- werter Verarmung aus der Seele mit Stumpf und Stiel aus- gerottet wird.
Religion, das kann nicht verkannt werden, ist in den lebenskräftigsten Völkern oder doch in den lebenskräftigsten Schichten dieser Völker von sehr geschwächtem, fast ist man versucht zu sagen, von keinem merklichen Einfluss mehr. Hat sie also ihre Rolle ausgespielt? Sofern es sich um die Religion der Transzendenz handelt, zögere ich nicht die Frage zu be- jahen. Aber ihr Platz ist leer, und er kann nicht leer bleiben. Der Mensch lebt nicht vom Brote der Vernunft allein, so wenig er dieser gesunden Kost entbehren kann. Er bedarf noch der Religion, und wenn die bisherige ihm nicht mehr genügen kann, so wird er sich eine neue, seinem gereifteren Stande angemessene schaffen. Wir möchten glauben, dass die alte Religion der notwendigen Umbildung an sich fähig ist, und wir meinen auch zu beobachten, dass man sich dieser Er- kenntnis von beiden Seiten, wenn auch sehr langsam, nähert. Doch ist es zwecklos, darüber zu grübeln, wie künftig einmal der Mensch sich seine Religion gestalten wird. Es ist wider-
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ersetzt; aber auch sie selbst ist durch keinen der andern
Faktoren ersetzlich; sondern im Verein mit ihnen allen erfüllt
sie noch eine eigentümliche und wichtige Aufgabe: die sittliche
Idee, die sonst nur als ungreifbar fernes Ziel dastände, zum
unmittelbarsten, innerlichsten Leben des Individuums in Be-
ziehung zu setzen, ihm nah und gegenwärtig zu halten, und so
seinem Gemüt eine stetige und gleichmässige Erwärmung für
das Gute mitzuteilen, die die sittliche Entschliessung auch im
schwersten Fall aus voller Seele fliessen und sie die Seligkeit
des Glaubens nicht vermissen lässt, ohne die in den ernsten
Erschütterungen des Lebens auch der Starke vielleicht nicht
aufrecht bliebe. Das ist doch, was man der Religion (in sitt-
licher Beziehung) zuschreibt; und wir glauben nicht, dass sie
das weniger vermag, wenn sie sich auf ihre rein menschliche
Grundlage zurückbesinnt und mit allem Menschlichen in reine
Harmonie zu treten sich entschliesst, statt dass sie entweder, in
einseitiger Stärke entwickelt, den Menschen im Menschen er-
tötet, oder aber als Trug des Gemüts erklärt und zu beklagens-
werter Verarmung aus der Seele mit Stumpf und Stiel aus-
gerottet wird.
Religion, das kann nicht verkannt werden, ist in den
lebenskräftigsten Völkern oder doch in den lebenskräftigsten
Schichten dieser Völker von sehr geschwächtem, fast ist man
versucht zu sagen, von keinem merklichen Einfluss mehr. Hat
sie also ihre Rolle ausgespielt? Sofern es sich um die Religion
der Transzendenz handelt, zögere ich nicht die Frage zu be-
jahen. Aber ihr Platz ist leer, und er kann nicht leer bleiben.
Der Mensch lebt nicht vom Brote der Vernunft allein, so
wenig er dieser gesunden Kost entbehren kann. Er bedarf
noch der Religion, und wenn die bisherige ihm nicht mehr
genügen kann, so wird er sich eine neue, seinem gereifteren
Stande angemessene schaffen. Wir möchten glauben, dass die
alte Religion der notwendigen Umbildung an sich fähig ist,
und wir meinen auch zu beobachten, dass man sich dieser Er-
kenntnis von beiden Seiten, wenn auch sehr langsam, nähert.
Doch ist es zwecklos, darüber zu grübeln, wie künftig einmal
der Mensch sich seine Religion gestalten wird. Es ist wider-
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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 351. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/367>, abgerufen am 05.12.2024.
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