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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899.

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vorstellungen sich gedeutet. Und ganz in dieser Naivität nun
vermöchte das Kind sie aufzunehmen. Pestalozzis wunder-
volle Schilderungen der frühesten, grundlegenden religiösen Bil-
dung liegen ganz auf dieser Linie. Auf diesem Boden kann
der Anhänger Feuerbachs mit dem Gläubigen alten Stils sich
ruhig vertragen. Denn auch dieser kann nicht verlangen, dass
dem Kinde etwas Andres von Religion geboten werde als, was
kindlich und also menschlich ist. Ist es nicht aber ein Zeug-
nis für den humanen Ursprung der Religion, dass eben dieser
Kindesglaube den Gläubigen immer als das wahre verlorene
Paradies der Religion vorschwebt? Ist nicht gesagt: So ihr
nicht werdet wie die Kinder, werdet ihr das Reich Gottes
nicht schauen?

Die eigentliche Krise der religiösen Bildung gehört der
zweiten Stufe, der des Begriffs. In wem der religiöse
Drang einmal allbeherrschend geworden ist, der wird den Be-
griff entweder ganz ablehnen oder sofort zum Dogma verhärten;
in wem umgekehrt der Sinn der Kritik früh erwacht, der
wird in Gefahr kommen, sogleich mit allem Religiösen als
leerem Kindertrug zu brechen. Und es ist, glaube ich, nicht
so ganz selten, dass schon der heranwachsende Knabe diese
Wegscheide bestimmt vor Augen sieht. Daher sehe ich keinen
andern Rat für die Erziehung, als dass sie die religiösen Be-
griffe zwar entwickle, denn man soll sie kennen, selbst um sie
verwerfen zu dürfen, aber zugleich in keiner Weise ihre Partei
nehme, und darauf halte, dass auch der Zögling sich nicht ge-
traue vor der vollen Reife des Urteils, die er auf dieser Stufe
noch nicht haben kann, für oder wider zu entscheiden. Irgend
eine dogmatische Entscheidung ist für das Schulalter ohne jede
Frage verfrüht, also darf sie nicht verlangt, sondern muss,
wenn möglich, sogar hintangehalten werden. Die erziehende
Wirkung der Religion hängt an ihr durchaus nicht; es ist er-
ziehender, vor eine so grosse Frage gestellt zu werden als
eine fertige Entscheidung diktiert zu erhalten, mit der Zumutung,
sie um jeden Preis anzunehmen, selbst ohne Einsicht, selbst
wider den vielleicht schon sich regenden Zweifel. Wer einmal
als Vierzehnjähriger mit schon erwachtem Denken diesen Kampf

vorstellungen sich gedeutet. Und ganz in dieser Naivität nun
vermöchte das Kind sie aufzunehmen. Pestalozzis wunder-
volle Schilderungen der frühesten, grundlegenden religiösen Bil-
dung liegen ganz auf dieser Linie. Auf diesem Boden kann
der Anhänger Feuerbachs mit dem Gläubigen alten Stils sich
ruhig vertragen. Denn auch dieser kann nicht verlangen, dass
dem Kinde etwas Andres von Religion geboten werde als, was
kindlich und also menschlich ist. Ist es nicht aber ein Zeug-
nis für den humanen Ursprung der Religion, dass eben dieser
Kindesglaube den Gläubigen immer als das wahre verlorene
Paradies der Religion vorschwebt? Ist nicht gesagt: So ihr
nicht werdet wie die Kinder, werdet ihr das Reich Gottes
nicht schauen?

Die eigentliche Krise der religiösen Bildung gehört der
zweiten Stufe, der des Begriffs. In wem der religiöse
Drang einmal allbeherrschend geworden ist, der wird den Be-
griff entweder ganz ablehnen oder sofort zum Dogma verhärten;
in wem umgekehrt der Sinn der Kritik früh erwacht, der
wird in Gefahr kommen, sogleich mit allem Religiösen als
leerem Kindertrug zu brechen. Und es ist, glaube ich, nicht
so ganz selten, dass schon der heranwachsende Knabe diese
Wegscheide bestimmt vor Augen sieht. Daher sehe ich keinen
andern Rat für die Erziehung, als dass sie die religiösen Be-
griffe zwar entwickle, denn man soll sie kennen, selbst um sie
verwerfen zu dürfen, aber zugleich in keiner Weise ihre Partei
nehme, und darauf halte, dass auch der Zögling sich nicht ge-
traue vor der vollen Reife des Urteils, die er auf dieser Stufe
noch nicht haben kann, für oder wider zu entscheiden. Irgend
eine dogmatische Entscheidung ist für das Schulalter ohne jede
Frage verfrüht, also darf sie nicht verlangt, sondern muss,
wenn möglich, sogar hintangehalten werden. Die erziehende
Wirkung der Religion hängt an ihr durchaus nicht; es ist er-
ziehender, vor eine so grosse Frage gestellt zu werden als
eine fertige Entscheidung diktiert zu erhalten, mit der Zumutung,
sie um jeden Preis anzunehmen, selbst ohne Einsicht, selbst
wider den vielleicht schon sich regenden Zweifel. Wer einmal
als Vierzehnjähriger mit schon erwachtem Denken diesen Kampf

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[346/0362] vorstellungen sich gedeutet. Und ganz in dieser Naivität nun vermöchte das Kind sie aufzunehmen. Pestalozzis wunder- volle Schilderungen der frühesten, grundlegenden religiösen Bil- dung liegen ganz auf dieser Linie. Auf diesem Boden kann der Anhänger Feuerbachs mit dem Gläubigen alten Stils sich ruhig vertragen. Denn auch dieser kann nicht verlangen, dass dem Kinde etwas Andres von Religion geboten werde als, was kindlich und also menschlich ist. Ist es nicht aber ein Zeug- nis für den humanen Ursprung der Religion, dass eben dieser Kindesglaube den Gläubigen immer als das wahre verlorene Paradies der Religion vorschwebt? Ist nicht gesagt: So ihr nicht werdet wie die Kinder, werdet ihr das Reich Gottes nicht schauen? Die eigentliche Krise der religiösen Bildung gehört der zweiten Stufe, der des Begriffs. In wem der religiöse Drang einmal allbeherrschend geworden ist, der wird den Be- griff entweder ganz ablehnen oder sofort zum Dogma verhärten; in wem umgekehrt der Sinn der Kritik früh erwacht, der wird in Gefahr kommen, sogleich mit allem Religiösen als leerem Kindertrug zu brechen. Und es ist, glaube ich, nicht so ganz selten, dass schon der heranwachsende Knabe diese Wegscheide bestimmt vor Augen sieht. Daher sehe ich keinen andern Rat für die Erziehung, als dass sie die religiösen Be- griffe zwar entwickle, denn man soll sie kennen, selbst um sie verwerfen zu dürfen, aber zugleich in keiner Weise ihre Partei nehme, und darauf halte, dass auch der Zögling sich nicht ge- traue vor der vollen Reife des Urteils, die er auf dieser Stufe noch nicht haben kann, für oder wider zu entscheiden. Irgend eine dogmatische Entscheidung ist für das Schulalter ohne jede Frage verfrüht, also darf sie nicht verlangt, sondern muss, wenn möglich, sogar hintangehalten werden. Die erziehende Wirkung der Religion hängt an ihr durchaus nicht; es ist er- ziehender, vor eine so grosse Frage gestellt zu werden als eine fertige Entscheidung diktiert zu erhalten, mit der Zumutung, sie um jeden Preis anzunehmen, selbst ohne Einsicht, selbst wider den vielleicht schon sich regenden Zweifel. Wer einmal als Vierzehnjähriger mit schon erwachtem Denken diesen Kampf

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Zitationshilfe: Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 346. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/362>, abgerufen am 30.11.2024.