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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899.

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gemacht wird, und in dieser Meinung etwa der Gestus der
Anbetung sich gegen es richten darf. Ganz hat auch der
bilderfeindlichste Kultus das nicht gemieden. Das Angebetete,
Göttliche soll unsichtbar, ohne körperliche Sinne, auch keinem
menschlichen Laut erreichbar sein; aber die sichtbare Geberde,
die hörbare Sprache der Anbetung scheint doch es in den Ort
und Augenblick bannen zu wollen. Sobald die Gegenwart des
Göttlichen so genommen wird, ist der Sinn des "aufrichtigen
Scheins" verletzt, und eine Dogmatik in die an sich rein ästhe-
tische Gestaltung hineingetragen, die doch dem Aesthetischen
seinem ganzen formalen Grunde nach fremd und feindlich ist.
Auch hier wird nur die Wahrheit der Sache in ihrer Reinheit
wiederhergestellt, wenn man den transzendenten Sinn des
Symbols abstreift und ihm die klare, unangreifbare Bedeutung
der künstlerischen Gestaltung zurückgiebt, die einzige, die es
ehrlicherweise behaupten kann und die es erfahrungsmässig
auch an dem unverkürzt beweist, der den dogmatischen Sinn
des Symbols ganz verwirft. Der Transzendenzgläubige wird
freilich eben hieran sich stossen; so wie jüngst einer unsrer
feinsten Gelehrten aus dem ultramontanen Lager den Faust-
Epilog für eine Blasphemie erklären konnte. Uns Andern ist
es eine gewichtige Bestätigung, dass die Kunst und Dichtung
schon längst den Weg gegangen ist, den wir vorschlagen,
und zu einigen ihrer unsterblichsten Schöpfungen auf diesem
Wege gelangt ist.

So also ist die Wandlung der Religion, die wir, nicht
fordern, sondern erwarten; die, in Vielen ohne klares Wissen,
in Wenigen bewusst, schon jetzt vollzogen ist. Es bleibt übrig
zu untersuchen, welche Wirkung die so gereinigte Religion --
aber auch die Religion, insofern sie die aufgezeigten wesent-
lichen Momente, wenngleich in noch nicht abgeklärter Reinheit,
dennoch enthält -- in sittlicher Hinsicht, im Verein mit allen
früher aufgewiesenen Faktoren der sittlichen Bildung, zu üben
imstande ist.


gemacht wird, und in dieser Meinung etwa der Gestus der
Anbetung sich gegen es richten darf. Ganz hat auch der
bilderfeindlichste Kultus das nicht gemieden. Das Angebetete,
Göttliche soll unsichtbar, ohne körperliche Sinne, auch keinem
menschlichen Laut erreichbar sein; aber die sichtbare Geberde,
die hörbare Sprache der Anbetung scheint doch es in den Ort
und Augenblick bannen zu wollen. Sobald die Gegenwart des
Göttlichen so genommen wird, ist der Sinn des „aufrichtigen
Scheins“ verletzt, und eine Dogmatik in die an sich rein ästhe-
tische Gestaltung hineingetragen, die doch dem Aesthetischen
seinem ganzen formalen Grunde nach fremd und feindlich ist.
Auch hier wird nur die Wahrheit der Sache in ihrer Reinheit
wiederhergestellt, wenn man den transzendenten Sinn des
Symbols abstreift und ihm die klare, unangreifbare Bedeutung
der künstlerischen Gestaltung zurückgiebt, die einzige, die es
ehrlicherweise behaupten kann und die es erfahrungsmässig
auch an dem unverkürzt beweist, der den dogmatischen Sinn
des Symbols ganz verwirft. Der Transzendenzgläubige wird
freilich eben hieran sich stossen; so wie jüngst einer unsrer
feinsten Gelehrten aus dem ultramontanen Lager den Faust-
Epilog für eine Blasphemie erklären konnte. Uns Andern ist
es eine gewichtige Bestätigung, dass die Kunst und Dichtung
schon längst den Weg gegangen ist, den wir vorschlagen,
und zu einigen ihrer unsterblichsten Schöpfungen auf diesem
Wege gelangt ist.

So also ist die Wandlung der Religion, die wir, nicht
fordern, sondern erwarten; die, in Vielen ohne klares Wissen,
in Wenigen bewusst, schon jetzt vollzogen ist. Es bleibt übrig
zu untersuchen, welche Wirkung die so gereinigte Religion —
aber auch die Religion, insofern sie die aufgezeigten wesent-
lichen Momente, wenngleich in noch nicht abgeklärter Reinheit,
dennoch enthält — in sittlicher Hinsicht, im Verein mit allen
früher aufgewiesenen Faktoren der sittlichen Bildung, zu üben
imstande ist.


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[341/0357] gemacht wird, und in dieser Meinung etwa der Gestus der Anbetung sich gegen es richten darf. Ganz hat auch der bilderfeindlichste Kultus das nicht gemieden. Das Angebetete, Göttliche soll unsichtbar, ohne körperliche Sinne, auch keinem menschlichen Laut erreichbar sein; aber die sichtbare Geberde, die hörbare Sprache der Anbetung scheint doch es in den Ort und Augenblick bannen zu wollen. Sobald die Gegenwart des Göttlichen so genommen wird, ist der Sinn des „aufrichtigen Scheins“ verletzt, und eine Dogmatik in die an sich rein ästhe- tische Gestaltung hineingetragen, die doch dem Aesthetischen seinem ganzen formalen Grunde nach fremd und feindlich ist. Auch hier wird nur die Wahrheit der Sache in ihrer Reinheit wiederhergestellt, wenn man den transzendenten Sinn des Symbols abstreift und ihm die klare, unangreifbare Bedeutung der künstlerischen Gestaltung zurückgiebt, die einzige, die es ehrlicherweise behaupten kann und die es erfahrungsmässig auch an dem unverkürzt beweist, der den dogmatischen Sinn des Symbols ganz verwirft. Der Transzendenzgläubige wird freilich eben hieran sich stossen; so wie jüngst einer unsrer feinsten Gelehrten aus dem ultramontanen Lager den Faust- Epilog für eine Blasphemie erklären konnte. Uns Andern ist es eine gewichtige Bestätigung, dass die Kunst und Dichtung schon längst den Weg gegangen ist, den wir vorschlagen, und zu einigen ihrer unsterblichsten Schöpfungen auf diesem Wege gelangt ist. So also ist die Wandlung der Religion, die wir, nicht fordern, sondern erwarten; die, in Vielen ohne klares Wissen, in Wenigen bewusst, schon jetzt vollzogen ist. Es bleibt übrig zu untersuchen, welche Wirkung die so gereinigte Religion — aber auch die Religion, insofern sie die aufgezeigten wesent- lichen Momente, wenngleich in noch nicht abgeklärter Reinheit, dennoch enthält — in sittlicher Hinsicht, im Verein mit allen früher aufgewiesenen Faktoren der sittlichen Bildung, zu üben imstande ist.

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Zitationshilfe: Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 341. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/357>, abgerufen am 30.11.2024.