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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899.

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von der Wirklichkeit des Vorgestellten überzeugt sein,
hält man entgegen. Es ist zu antworten: diese Wirklichkeit
wird anfangs naiv geglaubt, wie die der täglichen Drehung des
Himmels um die Erde; ist aber einmal diese Naivität zerstört,
ist die Frage nach der Wirklichkeit eine wissenschaftliche
erst geworden, so kann auch nicht länger verborgen bleiben,
dass die Bestimmung "Wirklichkeit" dem Gesetze des er-
kennenden Verstandes
unterliegt, und an ganz bestimmte
erkenntnis-gesetzliche Bedingungen gebunden ist. Diese aber
schliessen eine erkennbare Wirklichkeit des Unbedingten aus;
eine theoretische Behauptung von Wirklichkeit, die diese Grenze
nicht innehält, ist wissenschaftlich unzulässig. Aber vielmehr
ist die "Wirklichkeit", deren die Religion bedarf, gar nicht
im Gebiet und gemäss den Begriffen theoretischer Erkenntnis
zu suchen. Religion will gar nicht vermittelte Erkenntnis,
sondern unmittelbares Erlebnis sein. Es hat aber keinen Sinn,
eine andre Wirklichkeit unmittelbar im Gefühl erleben zu
wollen als die Wirklichkeit des Gefühls selbst. Die religiöse
Vorstellung ist rechtmässigerweise nur Gefühlshalt, nur Aus-
spruch, Buchstabe; es ist widersinnig für diesen Buchstaben
noch eine besondere Buchstabenwahrheit zu verlangen, ver-
schieden von der Wirklichkeit des Gefühlserlebnisses, das darin
zwar sich aussprechen möchte, aber sich dabei doch bewusst
bleibt sich nie wirklich aussprechen zu können, und im Grunde
auch nicht aussprechen zu sollen.

Stark religiöse Naturen haben denn auch stets die Unzuläng-
lichkeit jedes Dogmas mehr oder weniger empfunden. Sollte es
nicht heissen mit der Innerlichkeit der Religion erst ganz
Ernst machen, wenn man den Wegfall jeglicher Dogmatik
fordert?

Jede Gottesvorstellung, jeder ausgeführte Gedanke von
Gott ist einmal unvermeidlich anthropomorph. Kann man
denn unter Gott etwas Andres denken als die Menschheit --
den "Geist", den wir nur kennen als menschlichen -- zur Idee
erhoben? Weiss man auch nur ein einziges göttliches "Attri-
but" anzugeben, das etwas Andres nennt als eine menschliche
Eigenschaft, nur mit der an einer solchen leider unvollzieh-

Natorp, Sozialpädagogik. 22

von der Wirklichkeit des Vorgestellten überzeugt sein,
hält man entgegen. Es ist zu antworten: diese Wirklichkeit
wird anfangs naiv geglaubt, wie die der täglichen Drehung des
Himmels um die Erde; ist aber einmal diese Naivität zerstört,
ist die Frage nach der Wirklichkeit eine wissenschaftliche
erst geworden, so kann auch nicht länger verborgen bleiben,
dass die Bestimmung „Wirklichkeit“ dem Gesetze des er-
kennenden Verstandes
unterliegt, und an ganz bestimmte
erkenntnis-gesetzliche Bedingungen gebunden ist. Diese aber
schliessen eine erkennbare Wirklichkeit des Unbedingten aus;
eine theoretische Behauptung von Wirklichkeit, die diese Grenze
nicht innehält, ist wissenschaftlich unzulässig. Aber vielmehr
ist die „Wirklichkeit“, deren die Religion bedarf, gar nicht
im Gebiet und gemäss den Begriffen theoretischer Erkenntnis
zu suchen. Religion will gar nicht vermittelte Erkenntnis,
sondern unmittelbares Erlebnis sein. Es hat aber keinen Sinn,
eine andre Wirklichkeit unmittelbar im Gefühl erleben zu
wollen als die Wirklichkeit des Gefühls selbst. Die religiöse
Vorstellung ist rechtmässigerweise nur Gefühlshalt, nur Aus-
spruch, Buchstabe; es ist widersinnig für diesen Buchstaben
noch eine besondere Buchstabenwahrheit zu verlangen, ver-
schieden von der Wirklichkeit des Gefühlserlebnisses, das darin
zwar sich aussprechen möchte, aber sich dabei doch bewusst
bleibt sich nie wirklich aussprechen zu können, und im Grunde
auch nicht aussprechen zu sollen.

Stark religiöse Naturen haben denn auch stets die Unzuläng-
lichkeit jedes Dogmas mehr oder weniger empfunden. Sollte es
nicht heissen mit der Innerlichkeit der Religion erst ganz
Ernst machen, wenn man den Wegfall jeglicher Dogmatik
fordert?

Jede Gottesvorstellung, jeder ausgeführte Gedanke von
Gott ist einmal unvermeidlich anthropomorph. Kann man
denn unter Gott etwas Andres denken als die Menschheit —
den „Geist“, den wir nur kennen als menschlichen — zur Idee
erhoben? Weiss man auch nur ein einziges göttliches „Attri-
but“ anzugeben, das etwas Andres nennt als eine menschliche
Eigenschaft, nur mit der an einer solchen leider unvollzieh-

Natorp, Sozialpädagogik. 22
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[337/0353] von der Wirklichkeit des Vorgestellten überzeugt sein, hält man entgegen. Es ist zu antworten: diese Wirklichkeit wird anfangs naiv geglaubt, wie die der täglichen Drehung des Himmels um die Erde; ist aber einmal diese Naivität zerstört, ist die Frage nach der Wirklichkeit eine wissenschaftliche erst geworden, so kann auch nicht länger verborgen bleiben, dass die Bestimmung „Wirklichkeit“ dem Gesetze des er- kennenden Verstandes unterliegt, und an ganz bestimmte erkenntnis-gesetzliche Bedingungen gebunden ist. Diese aber schliessen eine erkennbare Wirklichkeit des Unbedingten aus; eine theoretische Behauptung von Wirklichkeit, die diese Grenze nicht innehält, ist wissenschaftlich unzulässig. Aber vielmehr ist die „Wirklichkeit“, deren die Religion bedarf, gar nicht im Gebiet und gemäss den Begriffen theoretischer Erkenntnis zu suchen. Religion will gar nicht vermittelte Erkenntnis, sondern unmittelbares Erlebnis sein. Es hat aber keinen Sinn, eine andre Wirklichkeit unmittelbar im Gefühl erleben zu wollen als die Wirklichkeit des Gefühls selbst. Die religiöse Vorstellung ist rechtmässigerweise nur Gefühlshalt, nur Aus- spruch, Buchstabe; es ist widersinnig für diesen Buchstaben noch eine besondere Buchstabenwahrheit zu verlangen, ver- schieden von der Wirklichkeit des Gefühlserlebnisses, das darin zwar sich aussprechen möchte, aber sich dabei doch bewusst bleibt sich nie wirklich aussprechen zu können, und im Grunde auch nicht aussprechen zu sollen. Stark religiöse Naturen haben denn auch stets die Unzuläng- lichkeit jedes Dogmas mehr oder weniger empfunden. Sollte es nicht heissen mit der Innerlichkeit der Religion erst ganz Ernst machen, wenn man den Wegfall jeglicher Dogmatik fordert? Jede Gottesvorstellung, jeder ausgeführte Gedanke von Gott ist einmal unvermeidlich anthropomorph. Kann man denn unter Gott etwas Andres denken als die Menschheit — den „Geist“, den wir nur kennen als menschlichen — zur Idee erhoben? Weiss man auch nur ein einziges göttliches „Attri- but“ anzugeben, das etwas Andres nennt als eine menschliche Eigenschaft, nur mit der an einer solchen leider unvollzieh- Natorp, Sozialpädagogik. 22

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Zitationshilfe: Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 337. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/353>, abgerufen am 29.11.2024.