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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899.

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Elemente in unvermeidlichen Konflikt mit der
Religion, sofern sie Transzendenz ist
; während sie,
wie ich behaupte, verträglich bleiben mit der Religion, die
auf die Transzendenz verzichtet. Ob man das nun noch Religion
nennen will oder nicht, ist gleichgültig. Es fliesst aus dem-
selben Quell, aus dem allein auch die Religion der Transzendenz
fliesst, es lebt in gleicher Art in der Seele des Menschen, es
wirkt in gleicher Art, ja es ist dasselbe, was jemals in der
Religion reine Kraft und Wirkung bewiesen hat, was in
ihr Wahrheit gewesen und für immer ist. Mit dem Weg-
fall der Transzendenz wird nicht der Quell der Religion ver-
schüttet, nicht ihre Kraft und Wahrheit entwurzelt. Ist dies
so, so ist es wahrlich die müssigste aller Doktorfragen, ob
man über das alles auch den Namen der Religion beibehalten
soll oder nicht.

Betrachten wir nun noch die Folgen, die aus der gedachten
Umwandlung der Religion sich ergeben müssten. Die erste
dieser Folgen ist der Wegfall aller und jeder Dogmatik.

Ursprüngliche Religion kennt kein Dogma. Sie hat
Vorstellungen des Göttlichen, aber ohne irgend welchen
Anspruch wissenschaftlicher Geltung. Erst auf einer
bestimmten Stufe der Entwicklung, nicht sowohl der Religion
als der Wissenschaft stellt sich das Bedürfnis einer wissen-
schaftlichen Rechtfertigung der Religion allerdings naturgemäss
ein. Aber auf dieser selben Stufe der bis zur Kritik ent-
wickelten Wissenschaft wird diese Rechtfertigung auch sofort
zurückgewiesen, da sie nun einmal die Grenzen und Gesetze
menschlicher Wissenschaft übersteigt. Bleibt nun dieser Ein-
wand im Recht -- fällt damit also die Wahrheit der Religion?
Vielmehr bloss jener neue, unwahre Anspruch religiöser
Vorstellungen auf schlechthin objektiven Erkenntniswert fällt
hin. Die religiöse Vorstellungsbildung unterliegt eigenen Ge-
setzen, verschieden von denen der theoretischen Erkenntnis;
aber sie tritt eben darum mit diesen nicht in Widerspruch,
so lange sie nicht den Anspruch objektiv-wissenschaftlicher
Geltung erhebt, so lange sie keine andre Bedeutung als die
eines Haltes für das Gefühl beansprucht. Aber man müsse

Elemente in unvermeidlichen Konflikt mit der
Religion, sofern sie Transzendenz ist
; während sie,
wie ich behaupte, verträglich bleiben mit der Religion, die
auf die Transzendenz verzichtet. Ob man das nun noch Religion
nennen will oder nicht, ist gleichgültig. Es fliesst aus dem-
selben Quell, aus dem allein auch die Religion der Transzendenz
fliesst, es lebt in gleicher Art in der Seele des Menschen, es
wirkt in gleicher Art, ja es ist dasselbe, was jemals in der
Religion reine Kraft und Wirkung bewiesen hat, was in
ihr Wahrheit gewesen und für immer ist. Mit dem Weg-
fall der Transzendenz wird nicht der Quell der Religion ver-
schüttet, nicht ihre Kraft und Wahrheit entwurzelt. Ist dies
so, so ist es wahrlich die müssigste aller Doktorfragen, ob
man über das alles auch den Namen der Religion beibehalten
soll oder nicht.

Betrachten wir nun noch die Folgen, die aus der gedachten
Umwandlung der Religion sich ergeben müssten. Die erste
dieser Folgen ist der Wegfall aller und jeder Dogmatik.

Ursprüngliche Religion kennt kein Dogma. Sie hat
Vorstellungen des Göttlichen, aber ohne irgend welchen
Anspruch wissenschaftlicher Geltung. Erst auf einer
bestimmten Stufe der Entwicklung, nicht sowohl der Religion
als der Wissenschaft stellt sich das Bedürfnis einer wissen-
schaftlichen Rechtfertigung der Religion allerdings naturgemäss
ein. Aber auf dieser selben Stufe der bis zur Kritik ent-
wickelten Wissenschaft wird diese Rechtfertigung auch sofort
zurückgewiesen, da sie nun einmal die Grenzen und Gesetze
menschlicher Wissenschaft übersteigt. Bleibt nun dieser Ein-
wand im Recht — fällt damit also die Wahrheit der Religion?
Vielmehr bloss jener neue, unwahre Anspruch religiöser
Vorstellungen auf schlechthin objektiven Erkenntniswert fällt
hin. Die religiöse Vorstellungsbildung unterliegt eigenen Ge-
setzen, verschieden von denen der theoretischen Erkenntnis;
aber sie tritt eben darum mit diesen nicht in Widerspruch,
so lange sie nicht den Anspruch objektiv-wissenschaftlicher
Geltung erhebt, so lange sie keine andre Bedeutung als die
eines Haltes für das Gefühl beansprucht. Aber man müsse

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[336/0352] Elemente in unvermeidlichen Konflikt mit der Religion, sofern sie Transzendenz ist; während sie, wie ich behaupte, verträglich bleiben mit der Religion, die auf die Transzendenz verzichtet. Ob man das nun noch Religion nennen will oder nicht, ist gleichgültig. Es fliesst aus dem- selben Quell, aus dem allein auch die Religion der Transzendenz fliesst, es lebt in gleicher Art in der Seele des Menschen, es wirkt in gleicher Art, ja es ist dasselbe, was jemals in der Religion reine Kraft und Wirkung bewiesen hat, was in ihr Wahrheit gewesen und für immer ist. Mit dem Weg- fall der Transzendenz wird nicht der Quell der Religion ver- schüttet, nicht ihre Kraft und Wahrheit entwurzelt. Ist dies so, so ist es wahrlich die müssigste aller Doktorfragen, ob man über das alles auch den Namen der Religion beibehalten soll oder nicht. Betrachten wir nun noch die Folgen, die aus der gedachten Umwandlung der Religion sich ergeben müssten. Die erste dieser Folgen ist der Wegfall aller und jeder Dogmatik. Ursprüngliche Religion kennt kein Dogma. Sie hat Vorstellungen des Göttlichen, aber ohne irgend welchen Anspruch wissenschaftlicher Geltung. Erst auf einer bestimmten Stufe der Entwicklung, nicht sowohl der Religion als der Wissenschaft stellt sich das Bedürfnis einer wissen- schaftlichen Rechtfertigung der Religion allerdings naturgemäss ein. Aber auf dieser selben Stufe der bis zur Kritik ent- wickelten Wissenschaft wird diese Rechtfertigung auch sofort zurückgewiesen, da sie nun einmal die Grenzen und Gesetze menschlicher Wissenschaft übersteigt. Bleibt nun dieser Ein- wand im Recht — fällt damit also die Wahrheit der Religion? Vielmehr bloss jener neue, unwahre Anspruch religiöser Vorstellungen auf schlechthin objektiven Erkenntniswert fällt hin. Die religiöse Vorstellungsbildung unterliegt eigenen Ge- setzen, verschieden von denen der theoretischen Erkenntnis; aber sie tritt eben darum mit diesen nicht in Widerspruch, so lange sie nicht den Anspruch objektiv-wissenschaftlicher Geltung erhebt, so lange sie keine andre Bedeutung als die eines Haltes für das Gefühl beansprucht. Aber man müsse

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Zitationshilfe: Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 336. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/352>, abgerufen am 29.11.2024.