keit dabei, die über die Skrupel des objektivierenden Verstandes leicht hinweghilft; diese Subjektivität ist ja, für den Stand- punkt der Religion, eigentlich ein Lob und eine Tugend; das Subjektive, nicht das Objektive, ist ja für diesen Standpunkt eben das "Wahre". Als blosser, von Abstraktion zu Abstraktion, von Objektivierung zu Objektivierung in grenzenloser Stufen- folge fortschreitender, somit "endlicher" Verstand mag er im Recht sein; aber diesem stellt man gegenüber den höheren Ver- stand, und wäre es allein der göttliche. Das besagt aber in Wahrheit: man versteht nicht, sondern postuliert ein Verstehen, das über alles (menschliche) Verstehen sei.
Im Gebiete des Willens aber hat zwar das "Unbedingte" eine ganz positive Bedeutung, doch nur die der Unbedingt- heit des Sollens, der Aufgabe, nämlich einer geforderten, aber für Endliche nie erreichbaren letzten Einheit der Zwecke. Auch diese positivere Bedeutung des Unbedingten, Unendlichen also ist doch lediglich formal, mithin grundverschieden von dem, was Religion, wie gesagt, nicht sowohl sucht als zu haben behauptet. Reine Sittlichkeit -- ein unerbittliches, ab- straktes, unpersönliches Gebot ohne Erfüllung; ein Gericht, das nur verdammt, niemals freispricht; ein Gesetz, das uns in eine Schuld stürzt, für die es kein Lösegeld giebt -- das ist nicht, worin Religion sich zu befriedigen vermag. Das ist nicht Gott; der nicht hilft, nicht uns nahe kommt oder vielmehr ewig nahe ist. Man thut der Religion Unrecht, wenn man ihr vorwirft, dass sie nur die "Glückseligkeit" des Ich im Auge habe. Nein, sie will, wenigstens in ihren höheren Formen, in der That die sittliche Reinheit; diese allerdings ganz individuell: "Was soll ich thun, dass ich selig werde" -- selig in Reinheit, in Gerechtigkeit -- so allerdings lautet ihre Frage. Und zwar verlangt sie in diesem gegenwärtigen Leben schon solcher Seligkeit gewiss zu werden, wenn auch nur mit der Gewissheit einer zweifellosen Verheissung; da sie sich doch nicht völlig dagegen verschliessen kann, dass die ganze Erfül- lung die Bedingungen dieses irdischen Lebens übersteigt. Ge- rade die kühne These, dass nichts als "Glaube" dazu gehöre, um diese ewige Errettung und Erlösung von aller Schuld sich
keit dabei, die über die Skrupel des objektivierenden Verstandes leicht hinweghilft; diese Subjektivität ist ja, für den Stand- punkt der Religion, eigentlich ein Lob und eine Tugend; das Subjektive, nicht das Objektive, ist ja für diesen Standpunkt eben das „Wahre“. Als blosser, von Abstraktion zu Abstraktion, von Objektivierung zu Objektivierung in grenzenloser Stufen- folge fortschreitender, somit „endlicher“ Verstand mag er im Recht sein; aber diesem stellt man gegenüber den höheren Ver- stand, und wäre es allein der göttliche. Das besagt aber in Wahrheit: man versteht nicht, sondern postuliert ein Verstehen, das über alles (menschliche) Verstehen sei.
Im Gebiete des Willens aber hat zwar das „Unbedingte“ eine ganz positive Bedeutung, doch nur die der Unbedingt- heit des Sollens, der Aufgabe, nämlich einer geforderten, aber für Endliche nie erreichbaren letzten Einheit der Zwecke. Auch diese positivere Bedeutung des Unbedingten, Unendlichen also ist doch lediglich formal, mithin grundverschieden von dem, was Religion, wie gesagt, nicht sowohl sucht als zu haben behauptet. Reine Sittlichkeit — ein unerbittliches, ab- straktes, unpersönliches Gebot ohne Erfüllung; ein Gericht, das nur verdammt, niemals freispricht; ein Gesetz, das uns in eine Schuld stürzt, für die es kein Lösegeld giebt — das ist nicht, worin Religion sich zu befriedigen vermag. Das ist nicht Gott; der nicht hilft, nicht uns nahe kommt oder vielmehr ewig nahe ist. Man thut der Religion Unrecht, wenn man ihr vorwirft, dass sie nur die „Glückseligkeit“ des Ich im Auge habe. Nein, sie will, wenigstens in ihren höheren Formen, in der That die sittliche Reinheit; diese allerdings ganz individuell: „Was soll ich thun, dass ich selig werde“ — selig in Reinheit, in Gerechtigkeit — so allerdings lautet ihre Frage. Und zwar verlangt sie in diesem gegenwärtigen Leben schon solcher Seligkeit gewiss zu werden, wenn auch nur mit der Gewissheit einer zweifellosen Verheissung; da sie sich doch nicht völlig dagegen verschliessen kann, dass die ganze Erfül- lung die Bedingungen dieses irdischen Lebens übersteigt. Ge- rade die kühne These, dass nichts als „Glaube“ dazu gehöre, um diese ewige Errettung und Erlösung von aller Schuld sich
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keit dabei, die über die Skrupel des objektivierenden Verstandes
leicht hinweghilft; diese Subjektivität ist ja, für den Stand-
punkt der Religion, eigentlich ein Lob und eine Tugend; das
Subjektive, nicht das Objektive, ist ja für diesen Standpunkt eben
das „Wahre“. Als blosser, von Abstraktion zu Abstraktion,
von Objektivierung zu Objektivierung in grenzenloser Stufen-
folge fortschreitender, somit „endlicher“ Verstand mag er im
Recht sein; aber diesem stellt man gegenüber den höheren Ver-
stand, und wäre es allein der göttliche. Das besagt aber in
Wahrheit: man versteht nicht, sondern postuliert
ein Verstehen, das über alles (menschliche) Verstehen sei.
Im Gebiete des Willens aber hat zwar das „Unbedingte“
eine ganz positive Bedeutung, doch nur die der Unbedingt-
heit des Sollens, der Aufgabe, nämlich einer geforderten,
aber für Endliche nie erreichbaren letzten Einheit der Zwecke.
Auch diese positivere Bedeutung des Unbedingten, Unendlichen
also ist doch lediglich formal, mithin grundverschieden von
dem, was Religion, wie gesagt, nicht sowohl sucht als zu
haben behauptet. Reine Sittlichkeit — ein unerbittliches, ab-
straktes, unpersönliches Gebot ohne Erfüllung; ein Gericht,
das nur verdammt, niemals freispricht; ein Gesetz, das uns
in eine Schuld stürzt, für die es kein Lösegeld giebt — das
ist nicht, worin Religion sich zu befriedigen vermag. Das
ist nicht Gott; der nicht hilft, nicht uns nahe kommt
oder vielmehr ewig nahe ist. Man thut der Religion Unrecht,
wenn man ihr vorwirft, dass sie nur die „Glückseligkeit“ des
Ich im Auge habe. Nein, sie will, wenigstens in ihren höheren
Formen, in der That die sittliche Reinheit; diese allerdings
ganz individuell: „Was soll ich thun, dass ich selig werde“ —
selig in Reinheit, in Gerechtigkeit — so allerdings lautet ihre
Frage. Und zwar verlangt sie in diesem gegenwärtigen Leben
schon solcher Seligkeit gewiss zu werden, wenn auch nur mit
der Gewissheit einer zweifellosen Verheissung; da sie sich doch
nicht völlig dagegen verschliessen kann, dass die ganze Erfül-
lung die Bedingungen dieses irdischen Lebens übersteigt. Ge-
rade die kühne These, dass nichts als „Glaube“ dazu gehöre,
um diese ewige Errettung und Erlösung von aller Schuld sich
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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 332. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/348>, abgerufen am 29.11.2024.
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