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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899.

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Stufe der Hauserziehung, die zweite der der Schulerziehung,
die erste der der freien Selbsterziehung angehört; nicht als
ob jedem Alter ein Stück der ganzen Tugend zuwachsen sollte;
sondern alle haben Teil an der ganzen, aber für jede grenzt
sich ein besonderer Kreis sittlicher Aufgaben ab, und
dieser Kreis bestimmt sich durch das Vorwalten, durch die
Zentralstellung je einer der Grundtugenden, und zwar dieser
in zugleich individualer und sozialer Bedeutung, so dass die
vierte individuale Tugend und die Tugenden der Gemeinschaft
nicht etwa ausfallen. Es handelt sich, mit andern Worten,
um den Aufbau einer und derselben sittlichen Welt im Geiste
des werdenden Menschen nur auf verschiedenen Stufen, eben
darum unter höhern und höhern Gesichtspunkten. Die Tugenden
und der schliessliche Grund ihrer Notwendigkeit, mithin auch
der innere Zusammenhang der Tugenden ist für alle Stufen
der individuellen und alle Zeitalter der menschlichen Entwick-
lung einer und derselbe; aber die sittliche Welt des Kindes,
des unentwickelten Menschen überhaupt, ist gleichwohl eine
andre als die des heranwachsenden, des zum Verständnis der
Organisation fortgeschrittenen Menschen, und diese wieder eine
andre als die des bis zur Stufe der Freiheit entwickelten; oder
richtiger, es ist eine und dieselbe Welt, aber anders und anders
orientiert; nicht anders wie von der sinnlichen Vorstellung der
äusseren Welt ihre gesetzliche Auffassung in den Wissenschaften,
und von dieser die aus der kritischen Stellungnahme des Philo-
sophen sich ergebende, erkenntnisgesetzlich begriffene Welt
sich unterscheidet. Es wird demnach nicht so sehr der materiale
Gehalt der sittlichen Lehre für die drei Stufen verschieden
sein; nur dass auch darin ein Fortschritt vom Einfachsten und
Nächstliegenden zu weiteren und weiteren Kreisen stattfindet;
aber dieser Fortschritt muss gleichsam konzentrisch geschehen,
also immer in den voraus schon eingeschlagenen oder an-
gedeuteten Richtungen bloss weiter gehen; der wesentliche
Unterschied liegt vielmehr in dem Gesichtspunkt, oder ganz
konkret gesprochen, in der Motivierung des sittlichen Gebots.
Für die erste Stufe stützt sich die Lehre (um einmal Kürze
halber die alten Termini zu brauchen) auf sinnliche Motive,

Natorp, Sozialpädagogik. 20

Stufe der Hauserziehung, die zweite der der Schulerziehung,
die erste der der freien Selbsterziehung angehört; nicht als
ob jedem Alter ein Stück der ganzen Tugend zuwachsen sollte;
sondern alle haben Teil an der ganzen, aber für jede grenzt
sich ein besonderer Kreis sittlicher Aufgaben ab, und
dieser Kreis bestimmt sich durch das Vorwalten, durch die
Zentralstellung je einer der Grundtugenden, und zwar dieser
in zugleich individualer und sozialer Bedeutung, so dass die
vierte individuale Tugend und die Tugenden der Gemeinschaft
nicht etwa ausfallen. Es handelt sich, mit andern Worten,
um den Aufbau einer und derselben sittlichen Welt im Geiste
des werdenden Menschen nur auf verschiedenen Stufen, eben
darum unter höhern und höhern Gesichtspunkten. Die Tugenden
und der schliessliche Grund ihrer Notwendigkeit, mithin auch
der innere Zusammenhang der Tugenden ist für alle Stufen
der individuellen und alle Zeitalter der menschlichen Entwick-
lung einer und derselbe; aber die sittliche Welt des Kindes,
des unentwickelten Menschen überhaupt, ist gleichwohl eine
andre als die des heranwachsenden, des zum Verständnis der
Organisation fortgeschrittenen Menschen, und diese wieder eine
andre als die des bis zur Stufe der Freiheit entwickelten; oder
richtiger, es ist eine und dieselbe Welt, aber anders und anders
orientiert; nicht anders wie von der sinnlichen Vorstellung der
äusseren Welt ihre gesetzliche Auffassung in den Wissenschaften,
und von dieser die aus der kritischen Stellungnahme des Philo-
sophen sich ergebende, erkenntnisgesetzlich begriffene Welt
sich unterscheidet. Es wird demnach nicht so sehr der materiale
Gehalt der sittlichen Lehre für die drei Stufen verschieden
sein; nur dass auch darin ein Fortschritt vom Einfachsten und
Nächstliegenden zu weiteren und weiteren Kreisen stattfindet;
aber dieser Fortschritt muss gleichsam konzentrisch geschehen,
also immer in den voraus schon eingeschlagenen oder an-
gedeuteten Richtungen bloss weiter gehen; der wesentliche
Unterschied liegt vielmehr in dem Gesichtspunkt, oder ganz
konkret gesprochen, in der Motivierung des sittlichen Gebots.
Für die erste Stufe stützt sich die Lehre (um einmal Kürze
halber die alten Termini zu brauchen) auf sinnliche Motive,

Natorp, Sozialpädagogik. 20
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[305/0321] Stufe der Hauserziehung, die zweite der der Schulerziehung, die erste der der freien Selbsterziehung angehört; nicht als ob jedem Alter ein Stück der ganzen Tugend zuwachsen sollte; sondern alle haben Teil an der ganzen, aber für jede grenzt sich ein besonderer Kreis sittlicher Aufgaben ab, und dieser Kreis bestimmt sich durch das Vorwalten, durch die Zentralstellung je einer der Grundtugenden, und zwar dieser in zugleich individualer und sozialer Bedeutung, so dass die vierte individuale Tugend und die Tugenden der Gemeinschaft nicht etwa ausfallen. Es handelt sich, mit andern Worten, um den Aufbau einer und derselben sittlichen Welt im Geiste des werdenden Menschen nur auf verschiedenen Stufen, eben darum unter höhern und höhern Gesichtspunkten. Die Tugenden und der schliessliche Grund ihrer Notwendigkeit, mithin auch der innere Zusammenhang der Tugenden ist für alle Stufen der individuellen und alle Zeitalter der menschlichen Entwick- lung einer und derselbe; aber die sittliche Welt des Kindes, des unentwickelten Menschen überhaupt, ist gleichwohl eine andre als die des heranwachsenden, des zum Verständnis der Organisation fortgeschrittenen Menschen, und diese wieder eine andre als die des bis zur Stufe der Freiheit entwickelten; oder richtiger, es ist eine und dieselbe Welt, aber anders und anders orientiert; nicht anders wie von der sinnlichen Vorstellung der äusseren Welt ihre gesetzliche Auffassung in den Wissenschaften, und von dieser die aus der kritischen Stellungnahme des Philo- sophen sich ergebende, erkenntnisgesetzlich begriffene Welt sich unterscheidet. Es wird demnach nicht so sehr der materiale Gehalt der sittlichen Lehre für die drei Stufen verschieden sein; nur dass auch darin ein Fortschritt vom Einfachsten und Nächstliegenden zu weiteren und weiteren Kreisen stattfindet; aber dieser Fortschritt muss gleichsam konzentrisch geschehen, also immer in den voraus schon eingeschlagenen oder an- gedeuteten Richtungen bloss weiter gehen; der wesentliche Unterschied liegt vielmehr in dem Gesichtspunkt, oder ganz konkret gesprochen, in der Motivierung des sittlichen Gebots. Für die erste Stufe stützt sich die Lehre (um einmal Kürze halber die alten Termini zu brauchen) auf sinnliche Motive, Natorp, Sozialpädagogik. 20

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Zitationshilfe: Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 305. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/321>, abgerufen am 27.11.2024.