Gedächtnisarbeit empfindlicher Mangel, an eigener Denkthätig- keit gefährlicher Ueberfluss gewesen wäre. Wie hat man auf solche Abwege nur geraten können? Man wird nicht fehl- gehen, wenn man der Rede vom "erziehenden Unterricht", vom geschichtlichen als dem zentralen "Gesinnungsunterricht" wenigstens einen Teil der Schuld beimisst. Die Phrasen von den "ethischen" Unterrichtsstoffen oder Lehrgegenständen u. s. w. sind seit diesen Lehrplänen offiziell geworden; aus- drücklich soll der gesamte Unterricht von "ethischem und ge- schichtlichem" Geiste -- was für diesen Standpunkt sich ein- fach deckt -- durchdrungen sein u. dgl. Zwar die ganz besondere politische und "soziale" Tendenz, welche die Lehr- pläne dem Geschichtsunterricht anbefehlen und gegen die die Geschichtslehrer selbst sehr gegründeten Einspruch erhoben haben, wird sich unter dem Deckmantel der Herbartschen Theorie ja wohl nicht zu bergen versuchen; das ist Zeitstim- mung und als solche, wie wir denken, heute bereits "historisch" geworden. Aber wenigstens die allgemeine Auffassung des Geschichtsunterrichts, welche die "Lehrpläne" vertreten, weicht doch nicht allzu weit von dem ab, was man auch in den gang- baren Lehrbüchern der Gymnasialpädagogen lesen kann; wie wenn es heisst, dass die Begeisterung des Lehrers, die Lehrerpersönlichkeit, die voll nur im freien Vortrag zur Geltung komme, die lebenswarme Schilderung der vorge- geführten Helden im Geschichtsunterricht "fast alles thue". Also der aufrichtigen Wahrheit der Sache, dem geduldigen Erarbeiten der Begriffe verbleibt so gut wie nichts! Da- gegen muss mit allem Nachdruck betont werden, dass es im geschichtlichen wie in jedem andern Unterricht auf Sachlich- keit zuerst und zuletzt ankommt, die durch jedes Vordrängen der Persönlichkeit des Lehrers nur Schaden leiden kann; dass Wahrheit zuerst zu fordern ist und nur auf ihrem Grunde Be- geisterung natürlich erwachsen soll, deren an sich die äusserste Torheit fast gerade so fähig ist; dass klare Begriffe, gegründetes Urteil das Ziel des Unterrichts sein müssen und erst sehr in zweiter Linie die eindrucksvolle Schilderung stehen darf; dass es mit einem Wort auf "Vernunft und rechten Sinn" zuerst und
Natorp, Sozialpädagogik. 19
Gedächtnisarbeit empfindlicher Mangel, an eigener Denkthätig- keit gefährlicher Ueberfluss gewesen wäre. Wie hat man auf solche Abwege nur geraten können? Man wird nicht fehl- gehen, wenn man der Rede vom „erziehenden Unterricht“, vom geschichtlichen als dem zentralen „Gesinnungsunterricht“ wenigstens einen Teil der Schuld beimisst. Die Phrasen von den „ethischen“ Unterrichtsstoffen oder Lehrgegenständen u. s. w. sind seit diesen Lehrplänen offiziell geworden; aus- drücklich soll der gesamte Unterricht von „ethischem und ge- schichtlichem“ Geiste — was für diesen Standpunkt sich ein- fach deckt — durchdrungen sein u. dgl. Zwar die ganz besondere politische und „soziale“ Tendenz, welche die Lehr- pläne dem Geschichtsunterricht anbefehlen und gegen die die Geschichtslehrer selbst sehr gegründeten Einspruch erhoben haben, wird sich unter dem Deckmantel der Herbartschen Theorie ja wohl nicht zu bergen versuchen; das ist Zeitstim- mung und als solche, wie wir denken, heute bereits „historisch“ geworden. Aber wenigstens die allgemeine Auffassung des Geschichtsunterrichts, welche die „Lehrpläne“ vertreten, weicht doch nicht allzu weit von dem ab, was man auch in den gang- baren Lehrbüchern der Gymnasialpädagogen lesen kann; wie wenn es heisst, dass die Begeisterung des Lehrers, die Lehrerpersönlichkeit, die voll nur im freien Vortrag zur Geltung komme, die lebenswarme Schilderung der vorge- geführten Helden im Geschichtsunterricht „fast alles thue“. Also der aufrichtigen Wahrheit der Sache, dem geduldigen Erarbeiten der Begriffe verbleibt so gut wie nichts! Da- gegen muss mit allem Nachdruck betont werden, dass es im geschichtlichen wie in jedem andern Unterricht auf Sachlich- keit zuerst und zuletzt ankommt, die durch jedes Vordrängen der Persönlichkeit des Lehrers nur Schaden leiden kann; dass Wahrheit zuerst zu fordern ist und nur auf ihrem Grunde Be- geisterung natürlich erwachsen soll, deren an sich die äusserste Torheit fast gerade so fähig ist; dass klare Begriffe, gegründetes Urteil das Ziel des Unterrichts sein müssen und erst sehr in zweiter Linie die eindrucksvolle Schilderung stehen darf; dass es mit einem Wort auf „Vernunft und rechten Sinn“ zuerst und
Natorp, Sozialpädagogik. 19
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Gedächtnisarbeit empfindlicher Mangel, an eigener Denkthätig-
keit gefährlicher Ueberfluss gewesen wäre. Wie hat man auf
solche Abwege nur geraten können? Man wird nicht fehl-
gehen, wenn man der Rede vom „erziehenden Unterricht“,
vom geschichtlichen als dem zentralen „Gesinnungsunterricht“
wenigstens einen Teil der Schuld beimisst. Die Phrasen von
den „ethischen“ Unterrichtsstoffen oder Lehrgegenständen
u. s. w. sind seit diesen Lehrplänen offiziell geworden; aus-
drücklich soll der gesamte Unterricht von „ethischem und ge-
schichtlichem“ Geiste — was für diesen Standpunkt sich ein-
fach deckt — durchdrungen sein u. dgl. Zwar die ganz
besondere politische und „soziale“ Tendenz, welche die Lehr-
pläne dem Geschichtsunterricht anbefehlen und gegen die die
Geschichtslehrer selbst sehr gegründeten Einspruch erhoben
haben, wird sich unter dem Deckmantel der Herbartschen
Theorie ja wohl nicht zu bergen versuchen; das ist Zeitstim-
mung und als solche, wie wir denken, heute bereits „historisch“
geworden. Aber wenigstens die allgemeine Auffassung des
Geschichtsunterrichts, welche die „Lehrpläne“ vertreten, weicht
doch nicht allzu weit von dem ab, was man auch in den gang-
baren Lehrbüchern der Gymnasialpädagogen lesen kann; wie
wenn es heisst, dass die Begeisterung des Lehrers, die
Lehrerpersönlichkeit, die voll nur im freien Vortrag zur
Geltung komme, die lebenswarme Schilderung der vorge-
geführten Helden im Geschichtsunterricht „fast alles thue“.
Also der aufrichtigen Wahrheit der Sache, dem geduldigen
Erarbeiten der Begriffe verbleibt so gut wie nichts! Da-
gegen muss mit allem Nachdruck betont werden, dass es im
geschichtlichen wie in jedem andern Unterricht auf Sachlich-
keit zuerst und zuletzt ankommt, die durch jedes Vordrängen
der Persönlichkeit des Lehrers nur Schaden leiden kann; dass
Wahrheit zuerst zu fordern ist und nur auf ihrem Grunde Be-
geisterung natürlich erwachsen soll, deren an sich die äusserste
Torheit fast gerade so fähig ist; dass klare Begriffe, gegründetes
Urteil das Ziel des Unterrichts sein müssen und erst sehr in
zweiter Linie die eindrucksvolle Schilderung stehen darf; dass es
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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 289. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/305>, abgerufen am 27.11.2024.
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