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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899.

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kommt von Geschehen; zwar fällt nicht alles Geschehen in
ihren Bereich, sondern nur das von Menschen ausgehende und
die gemeinen Interessen menschheitlicher Kultur von irgend
einer Seite wenigstens indirekt berührende, dieses aber doch
zunächst als Geschehen in der Zeit und hinsichtlich seiner
zeitlichen Bedingtheit. Nun lässt sich aber kein einzelnes
Geschehen vom Gesamtgeschehen, keine Kausalität eines ein-
zelnen Geschehens von der Totalität der Verursachungen, also
der Natur, wirklich ablösen. In der Geschichtsforschung ist
auch diese Einheit thatsächlich mehr und mehr zur Anerken-
nung gelangt; aber den Pädagogen scheint sie vielfach noch
recht fern zu liegen. Es verschwindet in den Ausführungen
über die Pädagogik des Geschichtsunterrichts oft gänzlich,
dass es in der Geschichte überhaupt etwas zu verstehen
giebt. Man erzählt und lässt wiedererzählen. Zwar sollen
es ohne Zweifel geschehene Thatsachen sein, die man erzählt,
auch bemüht man sich wohl in der Erzählung etwas von ur-
sachlichem Zusammenhang der Thatsachen wenigstens ahnen
zu lassen. Aber dass beides, die Thatsachen und der ursach-
liche Zusammenhang, erst erforscht, erst festgestellt zu
werden nötig hat, davon empfängt der Schüler fast keinen
Eindruck; während in den Naturwissenschaften, vollends in
der Mathematik doch allgemein anerkannt wird, dass der wenn
noch so begrenzte Einblick in die Erforschung der Thatsachen
und gesetzlichen Zusammenhänge, nicht die Mitteilung davon
und deren gläubige Hinnahme das eigentlich Bildende des
Unterrichts ausmacht. Muss es sich nicht in der Geschichte,
sofern es darin Thatsachen und Gesetzlichkeiten von That-
sachen zu erkennen giebt, genau so verhalten? Historie heisst
in herrschender Bedeutung Erforschung und nicht Erzählung;
die heute bei uns einflussreichste pädagogische Richtung scheint
sie ausschliesslich als Erzählung und ganz und gar nicht als
Erforschung zu verstehen. Nach Willmann z. B. hätte der
Geschichtsunterricht ausdrücklich "seinen Schwerpunkt in der
epischen Seite zu suchen"; das schliesst aber den Gesichts-
punkt der Erforschung geradezu aus; Epik und Erforschung
vertragen sich nicht. Epik ist ein ästhetischer Begriff, sie ist

kommt von Geschehen; zwar fällt nicht alles Geschehen in
ihren Bereich, sondern nur das von Menschen ausgehende und
die gemeinen Interessen menschheitlicher Kultur von irgend
einer Seite wenigstens indirekt berührende, dieses aber doch
zunächst als Geschehen in der Zeit und hinsichtlich seiner
zeitlichen Bedingtheit. Nun lässt sich aber kein einzelnes
Geschehen vom Gesamtgeschehen, keine Kausalität eines ein-
zelnen Geschehens von der Totalität der Verursachungen, also
der Natur, wirklich ablösen. In der Geschichtsforschung ist
auch diese Einheit thatsächlich mehr und mehr zur Anerken-
nung gelangt; aber den Pädagogen scheint sie vielfach noch
recht fern zu liegen. Es verschwindet in den Ausführungen
über die Pädagogik des Geschichtsunterrichts oft gänzlich,
dass es in der Geschichte überhaupt etwas zu verstehen
giebt. Man erzählt und lässt wiedererzählen. Zwar sollen
es ohne Zweifel geschehene Thatsachen sein, die man erzählt,
auch bemüht man sich wohl in der Erzählung etwas von ur-
sachlichem Zusammenhang der Thatsachen wenigstens ahnen
zu lassen. Aber dass beides, die Thatsachen und der ursach-
liche Zusammenhang, erst erforscht, erst festgestellt zu
werden nötig hat, davon empfängt der Schüler fast keinen
Eindruck; während in den Naturwissenschaften, vollends in
der Mathematik doch allgemein anerkannt wird, dass der wenn
noch so begrenzte Einblick in die Erforschung der Thatsachen
und gesetzlichen Zusammenhänge, nicht die Mitteilung davon
und deren gläubige Hinnahme das eigentlich Bildende des
Unterrichts ausmacht. Muss es sich nicht in der Geschichte,
sofern es darin Thatsachen und Gesetzlichkeiten von That-
sachen zu erkennen giebt, genau so verhalten? Historie heisst
in herrschender Bedeutung Erforschung und nicht Erzählung;
die heute bei uns einflussreichste pädagogische Richtung scheint
sie ausschliesslich als Erzählung und ganz und gar nicht als
Erforschung zu verstehen. Nach Willmann z. B. hätte der
Geschichtsunterricht ausdrücklich „seinen Schwerpunkt in der
epischen Seite zu suchen“; das schliesst aber den Gesichts-
punkt der Erforschung geradezu aus; Epik und Erforschung
vertragen sich nicht. Epik ist ein ästhetischer Begriff, sie ist

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[287/0303] kommt von Geschehen; zwar fällt nicht alles Geschehen in ihren Bereich, sondern nur das von Menschen ausgehende und die gemeinen Interessen menschheitlicher Kultur von irgend einer Seite wenigstens indirekt berührende, dieses aber doch zunächst als Geschehen in der Zeit und hinsichtlich seiner zeitlichen Bedingtheit. Nun lässt sich aber kein einzelnes Geschehen vom Gesamtgeschehen, keine Kausalität eines ein- zelnen Geschehens von der Totalität der Verursachungen, also der Natur, wirklich ablösen. In der Geschichtsforschung ist auch diese Einheit thatsächlich mehr und mehr zur Anerken- nung gelangt; aber den Pädagogen scheint sie vielfach noch recht fern zu liegen. Es verschwindet in den Ausführungen über die Pädagogik des Geschichtsunterrichts oft gänzlich, dass es in der Geschichte überhaupt etwas zu verstehen giebt. Man erzählt und lässt wiedererzählen. Zwar sollen es ohne Zweifel geschehene Thatsachen sein, die man erzählt, auch bemüht man sich wohl in der Erzählung etwas von ur- sachlichem Zusammenhang der Thatsachen wenigstens ahnen zu lassen. Aber dass beides, die Thatsachen und der ursach- liche Zusammenhang, erst erforscht, erst festgestellt zu werden nötig hat, davon empfängt der Schüler fast keinen Eindruck; während in den Naturwissenschaften, vollends in der Mathematik doch allgemein anerkannt wird, dass der wenn noch so begrenzte Einblick in die Erforschung der Thatsachen und gesetzlichen Zusammenhänge, nicht die Mitteilung davon und deren gläubige Hinnahme das eigentlich Bildende des Unterrichts ausmacht. Muss es sich nicht in der Geschichte, sofern es darin Thatsachen und Gesetzlichkeiten von That- sachen zu erkennen giebt, genau so verhalten? Historie heisst in herrschender Bedeutung Erforschung und nicht Erzählung; die heute bei uns einflussreichste pädagogische Richtung scheint sie ausschliesslich als Erzählung und ganz und gar nicht als Erforschung zu verstehen. Nach Willmann z. B. hätte der Geschichtsunterricht ausdrücklich „seinen Schwerpunkt in der epischen Seite zu suchen“; das schliesst aber den Gesichts- punkt der Erforschung geradezu aus; Epik und Erforschung vertragen sich nicht. Epik ist ein ästhetischer Begriff, sie ist

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Zitationshilfe: Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 287. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/303>, abgerufen am 23.11.2024.