intellektueller Bedeutung mit dem Sinn und Bedürfnis der Wahrheit als praktischer Tugend; das kritische Gewissen der wissenschaftlichen Vernunft mit der sittlichen Selbstkritik. Man hätte direkt von Tugenden des Intellekts, genau parallel denen des Willens, zu reden, wenn nicht in Wahrheit jene in diesen schon mitbegriffen wären. Dass Pestalozzi auch diesen Zu- sammenhang nahe vor Augen gesehen, zeigen am schönsten seine unvergesslichen Sätze über die Arbeitsbildung *). Un- zulänglich bleibt bei ihm allenfalls, dass die technische Bildung, die er zu eng nur als Bildung der Hand (und etwa des Auges) versteht, der Kopf- und Herzensbildung selbständig nebengeordnet wird; obwohl sie bisweilen deutlich als das gemeinsame, beide vermittelnde Element zu Tage tritt.
Aber auch die vierte unsrer ethischen Tugenden, die dem sozialen Gebiet zugewandte, obwohl zugleich individuell be- gründete Tugend der Gerechtigkeit findet im Felde des Intellekts ihr Gegenbild. Schon überzeugten wir uns, nicht bloss, dass die Technik auf Gemeinsamkeit des Thuns und also auf ge- meinschaftliche Regelung zwingend hinführt, sondern dass mensch- liche Vernunft überhaupt, auch als bloss theoretische, wesent- lich Vernunft der Gemeinschaft ist und nur im Leben der Gemeinschaft sich entwickelt, also auch umgekehrt durch ihre Entwicklung zur Bildung des Sinns und Willens der Gemein- schaft beitragen muss. Wenn also überhaupt von intellek- tuellen Tugenden, so wäre auch von einer intellektuellen Tugend der Gerechtigkeit zu sprechen, als der Bereitschaft, auf dem Grunde gemeinsamer Vernunft mit dem Andern auch im blossen Denken Verständigung zu suchen, gerechte Kritik zu üben und gerechter Kritik sich willig zu unterwerfen. Nur ist wiederum ohne weiteres klar, dass dies in dem ethischen Begriff der Ge- rechtigkeit schon mitenthalten ist.
Dieses alles findet nun notwendig in der Erziehung, und sofern die Erziehung des Verstandes, des Kennens wie des
*) Lienhard und Gertrud (Werke hr. v. Seyffarth Bd. 4, S. 208). Vgl. "Pestalozzi's Ideen über Arbeiterbildung und soziale Frage" S. 27; Herbart, Pestalozzi etc. S. 123 f.
intellektueller Bedeutung mit dem Sinn und Bedürfnis der Wahrheit als praktischer Tugend; das kritische Gewissen der wissenschaftlichen Vernunft mit der sittlichen Selbstkritik. Man hätte direkt von Tugenden des Intellekts, genau parallel denen des Willens, zu reden, wenn nicht in Wahrheit jene in diesen schon mitbegriffen wären. Dass Pestalozzi auch diesen Zu- sammenhang nahe vor Augen gesehen, zeigen am schönsten seine unvergesslichen Sätze über die Arbeitsbildung *). Un- zulänglich bleibt bei ihm allenfalls, dass die technische Bildung, die er zu eng nur als Bildung der Hand (und etwa des Auges) versteht, der Kopf- und Herzensbildung selbständig nebengeordnet wird; obwohl sie bisweilen deutlich als das gemeinsame, beide vermittelnde Element zu Tage tritt.
Aber auch die vierte unsrer ethischen Tugenden, die dem sozialen Gebiet zugewandte, obwohl zugleich individuell be- gründete Tugend der Gerechtigkeit findet im Felde des Intellekts ihr Gegenbild. Schon überzeugten wir uns, nicht bloss, dass die Technik auf Gemeinsamkeit des Thuns und also auf ge- meinschaftliche Regelung zwingend hinführt, sondern dass mensch- liche Vernunft überhaupt, auch als bloss theoretische, wesent- lich Vernunft der Gemeinschaft ist und nur im Leben der Gemeinschaft sich entwickelt, also auch umgekehrt durch ihre Entwicklung zur Bildung des Sinns und Willens der Gemein- schaft beitragen muss. Wenn also überhaupt von intellek- tuellen Tugenden, so wäre auch von einer intellektuellen Tugend der Gerechtigkeit zu sprechen, als der Bereitschaft, auf dem Grunde gemeinsamer Vernunft mit dem Andern auch im blossen Denken Verständigung zu suchen, gerechte Kritik zu üben und gerechter Kritik sich willig zu unterwerfen. Nur ist wiederum ohne weiteres klar, dass dies in dem ethischen Begriff der Ge- rechtigkeit schon mitenthalten ist.
Dieses alles findet nun notwendig in der Erziehung, und sofern die Erziehung des Verstandes, des Kennens wie des
*) Lienhard und Gertrud (Werke hr. v. Seyffarth Bd. 4, S. 208). Vgl. „Pestalozzi’s Ideen über Arbeiterbildung und soziale Frage“ S. 27; Herbart, Pestalozzi etc. S. 123 f.
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wissenschaftlichen Vernunft mit der sittlichen Selbstkritik. Man
hätte direkt von Tugenden des Intellekts, genau parallel denen
des Willens, zu reden, wenn nicht in Wahrheit jene in diesen
schon mitbegriffen wären. Dass Pestalozzi auch diesen Zu-
sammenhang nahe vor Augen gesehen, zeigen am schönsten
seine unvergesslichen Sätze über die Arbeitsbildung *). Un-
zulänglich bleibt bei ihm allenfalls, dass die technische Bildung,
die er zu eng nur als Bildung der Hand (und etwa des Auges)
versteht, der Kopf- und Herzensbildung selbständig nebengeordnet
wird; obwohl sie bisweilen deutlich als das gemeinsame, beide
vermittelnde Element zu Tage tritt.
Aber auch die vierte unsrer ethischen Tugenden, die dem
sozialen Gebiet zugewandte, obwohl zugleich individuell be-
gründete Tugend der Gerechtigkeit findet im Felde des Intellekts
ihr Gegenbild. Schon überzeugten wir uns, nicht bloss, dass
die Technik auf Gemeinsamkeit des Thuns und also auf ge-
meinschaftliche Regelung zwingend hinführt, sondern dass mensch-
liche Vernunft überhaupt, auch als bloss theoretische, wesent-
lich Vernunft der Gemeinschaft ist und nur im Leben der
Gemeinschaft sich entwickelt, also auch umgekehrt durch ihre
Entwicklung zur Bildung des Sinns und Willens der Gemein-
schaft beitragen muss. Wenn also überhaupt von intellek-
tuellen Tugenden, so wäre auch von einer intellektuellen Tugend
der Gerechtigkeit zu sprechen, als der Bereitschaft, auf dem
Grunde gemeinsamer Vernunft mit dem Andern auch im blossen
Denken Verständigung zu suchen, gerechte Kritik zu üben und
gerechter Kritik sich willig zu unterwerfen. Nur ist wiederum
ohne weiteres klar, dass dies in dem ethischen Begriff der Ge-
rechtigkeit schon mitenthalten ist.
Dieses alles findet nun notwendig in der Erziehung, und
sofern die Erziehung des Verstandes, des Kennens wie des
*) Lienhard und Gertrud (Werke hr. v. Seyffarth Bd. 4, S. 208).
Vgl. „Pestalozzi’s Ideen über Arbeiterbildung und soziale Frage“ S. 27;
Herbart, Pestalozzi etc. S. 123 f.
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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 276. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/292>, abgerufen am 16.02.2025.
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