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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899.

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scheinende, wiewohl wirklich nur im Bewusstsein gegeben
(denn Erscheinen heisst: Irgendwem bewusst sein), löst sich
doch in der Betrachtung von ihm gleichsam ab. Indem es für
jemand Erscheinung (ihm bewusst) ist, steht es allein ihm vor
Augen; er hat nicht nötig, sein Augenmerk ausserdem darauf
zu richten, dass es ihm bewusst sei. Das Bewusst-sein der
Erscheinung oder die auf sie sich richtende Betrachtung ist
nicht noch ein fernerer, notwendig von ihm zu betrachten-
der Gegenstand. Das würde ja auch ins Unendliche gehen,
denn ebenso müsste die Betrachtung der Betrachtung wieder
Gegenstand einer neuen Betrachtung sein, und so fort ohne Ende.
Sondern, indem die Erscheinung Gegenstand meiner Betrachtung
ist, habe ich es nur mit ihr, nicht mit mir zu thun.

So glauben wir es zu verstehen, dass die Gesamtheit des
Erscheinenden sich in der Vorstellung zu einer Welt zusammen-
schliesst, von der wir reden können, als sei sie an sich ohne
uns, die Betrachtenden da, als sei es ein blosser, gleichgültiger
Nebenumstand, dass auch wir da sind, sie zu betrachten; ob-
gleich wir thatsächlich von ihrem Dasein freilich nur dadurch
wissen, dass auch wir als die Betrachtenden da sind.

Die "idealistischen" Folgerungen, die sich hier nahelegen,
sollen uns auf unserem Wege nicht aufhalten. Es genügt,
dass Erscheinungen gegeben sind als nächster, vorerst einziger
Gegenstand der Erkenntnis. Unter Erkenntnis aber ver-
standen wir bisher und verstehen auch jetzt: die Ordnung
der Erscheinungen unter Gesetzen, und zwar ihre zeitliche
Ordnung, gemäss dem Grundgesetz der Kausalität. Dadurch
begrenzt sich das Gebiet der Naturerkenntnis. In ihr ist,
wie wir uns überzeugten, die Idee nicht zu suchen.

Nun meint man aber, es müsse doch auch das andre, das
Bewusst-sein der Erscheinungen, den Gegenstand einer eigen-
tümlichen Erkenntnis bilden. Es ist doch eben auch vorhan-
den, wiewohl mit nichts verwandt oder vergleichbar, was uns,
als von uns selbst Verschiedenes, erscheint; sollte es nicht
auch irgendeiner eigentümlichen Erkenntnis zugänglich sein?
Wie verhält es sich damit?

Wir antworten darauf: An dem nackten Bewusst-sein oder

scheinende, wiewohl wirklich nur im Bewusstsein gegeben
(denn Erscheinen heisst: Irgendwem bewusst sein), löst sich
doch in der Betrachtung von ihm gleichsam ab. Indem es für
jemand Erscheinung (ihm bewusst) ist, steht es allein ihm vor
Augen; er hat nicht nötig, sein Augenmerk ausserdem darauf
zu richten, dass es ihm bewusst sei. Das Bewusst-sein der
Erscheinung oder die auf sie sich richtende Betrachtung ist
nicht noch ein fernerer, notwendig von ihm zu betrachten-
der Gegenstand. Das würde ja auch ins Unendliche gehen,
denn ebenso müsste die Betrachtung der Betrachtung wieder
Gegenstand einer neuen Betrachtung sein, und so fort ohne Ende.
Sondern, indem die Erscheinung Gegenstand meiner Betrachtung
ist, habe ich es nur mit ihr, nicht mit mir zu thun.

So glauben wir es zu verstehen, dass die Gesamtheit des
Erscheinenden sich in der Vorstellung zu einer Welt zusammen-
schliesst, von der wir reden können, als sei sie an sich ohne
uns, die Betrachtenden da, als sei es ein blosser, gleichgültiger
Nebenumstand, dass auch wir da sind, sie zu betrachten; ob-
gleich wir thatsächlich von ihrem Dasein freilich nur dadurch
wissen, dass auch wir als die Betrachtenden da sind.

Die „idealistischen“ Folgerungen, die sich hier nahelegen,
sollen uns auf unserem Wege nicht aufhalten. Es genügt,
dass Erscheinungen gegeben sind als nächster, vorerst einziger
Gegenstand der Erkenntnis. Unter Erkenntnis aber ver-
standen wir bisher und verstehen auch jetzt: die Ordnung
der Erscheinungen unter Gesetzen, und zwar ihre zeitliche
Ordnung, gemäss dem Grundgesetz der Kausalität. Dadurch
begrenzt sich das Gebiet der Naturerkenntnis. In ihr ist,
wie wir uns überzeugten, die Idee nicht zu suchen.

Nun meint man aber, es müsse doch auch das andre, das
Bewusst-sein der Erscheinungen, den Gegenstand einer eigen-
tümlichen Erkenntnis bilden. Es ist doch eben auch vorhan-
den, wiewohl mit nichts verwandt oder vergleichbar, was uns,
als von uns selbst Verschiedenes, erscheint; sollte es nicht
auch irgendeiner eigentümlichen Erkenntnis zugänglich sein?
Wie verhält es sich damit?

Wir antworten darauf: An dem nackten Bewusst-sein oder

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[11/0027] scheinende, wiewohl wirklich nur im Bewusstsein gegeben (denn Erscheinen heisst: Irgendwem bewusst sein), löst sich doch in der Betrachtung von ihm gleichsam ab. Indem es für jemand Erscheinung (ihm bewusst) ist, steht es allein ihm vor Augen; er hat nicht nötig, sein Augenmerk ausserdem darauf zu richten, dass es ihm bewusst sei. Das Bewusst-sein der Erscheinung oder die auf sie sich richtende Betrachtung ist nicht noch ein fernerer, notwendig von ihm zu betrachten- der Gegenstand. Das würde ja auch ins Unendliche gehen, denn ebenso müsste die Betrachtung der Betrachtung wieder Gegenstand einer neuen Betrachtung sein, und so fort ohne Ende. Sondern, indem die Erscheinung Gegenstand meiner Betrachtung ist, habe ich es nur mit ihr, nicht mit mir zu thun. So glauben wir es zu verstehen, dass die Gesamtheit des Erscheinenden sich in der Vorstellung zu einer Welt zusammen- schliesst, von der wir reden können, als sei sie an sich ohne uns, die Betrachtenden da, als sei es ein blosser, gleichgültiger Nebenumstand, dass auch wir da sind, sie zu betrachten; ob- gleich wir thatsächlich von ihrem Dasein freilich nur dadurch wissen, dass auch wir als die Betrachtenden da sind. Die „idealistischen“ Folgerungen, die sich hier nahelegen, sollen uns auf unserem Wege nicht aufhalten. Es genügt, dass Erscheinungen gegeben sind als nächster, vorerst einziger Gegenstand der Erkenntnis. Unter Erkenntnis aber ver- standen wir bisher und verstehen auch jetzt: die Ordnung der Erscheinungen unter Gesetzen, und zwar ihre zeitliche Ordnung, gemäss dem Grundgesetz der Kausalität. Dadurch begrenzt sich das Gebiet der Naturerkenntnis. In ihr ist, wie wir uns überzeugten, die Idee nicht zu suchen. Nun meint man aber, es müsse doch auch das andre, das Bewusst-sein der Erscheinungen, den Gegenstand einer eigen- tümlichen Erkenntnis bilden. Es ist doch eben auch vorhan- den, wiewohl mit nichts verwandt oder vergleichbar, was uns, als von uns selbst Verschiedenes, erscheint; sollte es nicht auch irgendeiner eigentümlichen Erkenntnis zugänglich sein? Wie verhält es sich damit? Wir antworten darauf: An dem nackten Bewusst-sein oder

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Zitationshilfe: Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 11. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/27>, abgerufen am 23.11.2024.