Von diesem sehr bestimmten Unterschied abgesehen, der den alten Gegensatz von "Wissen" und "Glauben", wie wir meinen, aufzuhellen imstande ist, muss man doch anerkennen, dass in der Geschichte des Menschengeschlechts die reli- giösen Gemeinschaften allein dem, was wir fordern, einigermaassen nahe gekommen sind; näher zwar in dem, was sie sein wollten, als in dem, was sie thatsächlich waren. Religion hat doch das hohe Ideal einer wahrhaften, auf den innersten Grund der Gesinnung zu bauenden Gemeinschaft, einer wah- ren geistigen Einheit sogar des ganzen Menschengeschlechts, einer teleologischen Einheit auch der Menschheitsgeschichte von An- beginn an, in kühnem Glauben aufgestellt. Sie hat fest darauf ge- traut, dass jenes überirdische Reich einer durch nichts mehr zu trübenden seelischen Gemeinschaft kommen müsse, und dass jeder ohne irgendwelche Ausnahme zum Bürger dieses Reiches berufen sei. Sie hat das in grossen Zügen sogar zu verwirk- lichen unternommen; aber freilich in jener unhaltbaren Los- lösung des höchsten geistigen Seins des Menschen von den sinnlichen Triebkräften seines Daseins hienieden, folglich vom wirtschaftlichen, vom staatlichen Leben, von freier Natur- erforschung und selbständig, human begründeter Sittlichkeit. Sie hat deshalb am modernen, freier entfalteten Kulturleben scheitern müssen, oder doch sich nur durch offenbares Preis- geben ihres eigentlichen Kerngedankens damit äusserlich ab- zufinden vermocht. Jeder Versuch, den neuen Most in diese alten Schläuche zu füllen, führt, so fürchte ich, vom klaren Wege ab.
Somit ist es allerdings nicht mehr als allein die letzte Idee, in der wir mit ihr noch zusammenhängen; das sei, um auch nicht den Schatten des Verdachts einer unlauteren "Ac- commodation" aufkommen zu lassen*), ausdrücklich gesagt.
*) Wie sie in meiner früheren Schrift, zu meiner Verwunderung, von Julius Baumann gefunden werden konnte (Göttinger Gel. Anz. 1894, S. 689 f.). Dagegen ist einem anderen Kritiker, Jul. Duboc, (Zukunft, Bd. VIII, S. 270) als das Merkwürdigste an der Schrift gerade die Rück- haltlosigkeit erschienen, mit der sie von der Kirche selbst den Verzicht auf das Dogma zu fordern wagt.
Von diesem sehr bestimmten Unterschied abgesehen, der den alten Gegensatz von „Wissen“ und „Glauben“, wie wir meinen, aufzuhellen imstande ist, muss man doch anerkennen, dass in der Geschichte des Menschengeschlechts die reli- giösen Gemeinschaften allein dem, was wir fordern, einigermaassen nahe gekommen sind; näher zwar in dem, was sie sein wollten, als in dem, was sie thatsächlich waren. Religion hat doch das hohe Ideal einer wahrhaften, auf den innersten Grund der Gesinnung zu bauenden Gemeinschaft, einer wah- ren geistigen Einheit sogar des ganzen Menschengeschlechts, einer teleologischen Einheit auch der Menschheitsgeschichte von An- beginn an, in kühnem Glauben aufgestellt. Sie hat fest darauf ge- traut, dass jenes überirdische Reich einer durch nichts mehr zu trübenden seelischen Gemeinschaft kommen müsse, und dass jeder ohne irgendwelche Ausnahme zum Bürger dieses Reiches berufen sei. Sie hat das in grossen Zügen sogar zu verwirk- lichen unternommen; aber freilich in jener unhaltbaren Los- lösung des höchsten geistigen Seins des Menschen von den sinnlichen Triebkräften seines Daseins hienieden, folglich vom wirtschaftlichen, vom staatlichen Leben, von freier Natur- erforschung und selbständig, human begründeter Sittlichkeit. Sie hat deshalb am modernen, freier entfalteten Kulturleben scheitern müssen, oder doch sich nur durch offenbares Preis- geben ihres eigentlichen Kerngedankens damit äusserlich ab- zufinden vermocht. Jeder Versuch, den neuen Most in diese alten Schläuche zu füllen, führt, so fürchte ich, vom klaren Wege ab.
Somit ist es allerdings nicht mehr als allein die letzte Idee, in der wir mit ihr noch zusammenhängen; das sei, um auch nicht den Schatten des Verdachts einer unlauteren „Ac- commodation“ aufkommen zu lassen*), ausdrücklich gesagt.
*) Wie sie in meiner früheren Schrift, zu meiner Verwunderung, von Julius Baumann gefunden werden konnte (Göttinger Gel. Anz. 1894, S. 689 f.). Dagegen ist einem anderen Kritiker, Jul. Duboc, (Zukunft, Bd. VIII, S. 270) als das Merkwürdigste an der Schrift gerade die Rück- haltlosigkeit erschienen, mit der sie von der Kirche selbst den Verzicht auf das Dogma zu fordern wagt.
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giösen Gemeinschaften allein dem, was wir fordern,
einigermaassen nahe gekommen sind; näher zwar in dem, was sie
sein wollten, als in dem, was sie thatsächlich waren. Religion
hat doch das hohe Ideal einer wahrhaften, auf den innersten
Grund der Gesinnung zu bauenden Gemeinschaft, einer wah-
ren geistigen Einheit sogar des ganzen Menschengeschlechts, einer
teleologischen Einheit auch der Menschheitsgeschichte von An-
beginn an, in kühnem Glauben aufgestellt. Sie hat fest darauf ge-
traut, dass jenes überirdische Reich einer durch nichts mehr
zu trübenden seelischen Gemeinschaft kommen müsse, und dass
jeder ohne irgendwelche Ausnahme zum Bürger dieses Reiches
berufen sei. Sie hat das in grossen Zügen sogar zu verwirk-
lichen unternommen; aber freilich in jener unhaltbaren Los-
lösung des höchsten geistigen Seins des Menschen von den
sinnlichen Triebkräften seines Daseins hienieden, folglich vom
wirtschaftlichen, vom staatlichen Leben, von freier Natur-
erforschung und selbständig, human begründeter Sittlichkeit.
Sie hat deshalb am modernen, freier entfalteten Kulturleben
scheitern müssen, oder doch sich nur durch offenbares Preis-
geben ihres eigentlichen Kerngedankens damit äusserlich ab-
zufinden vermocht. Jeder Versuch, den neuen Most in diese
alten Schläuche zu füllen, führt, so fürchte ich, vom klaren
Wege ab.
Somit ist es allerdings nicht mehr als allein die letzte
Idee, in der wir mit ihr noch zusammenhängen; das sei, um
auch nicht den Schatten des Verdachts einer unlauteren „Ac-
commodation“ aufkommen zu lassen *), ausdrücklich gesagt.
*) Wie sie in meiner früheren Schrift, zu meiner Verwunderung, von
Julius Baumann gefunden werden konnte (Göttinger Gel. Anz. 1894,
S. 689 f.). Dagegen ist einem anderen Kritiker, Jul. Duboc, (Zukunft,
Bd. VIII, S. 270) als das Merkwürdigste an der Schrift gerade die Rück-
haltlosigkeit erschienen, mit der sie von der Kirche selbst den Verzicht
auf das Dogma zu fordern wagt.
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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 223. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/239>, abgerufen am 17.02.2025.
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