sonst so wenig spürt, sondern auf der wachsenden Erkennt- nis eben der sozialen Bedeutung dieses zeitweilig allzu sehr vernachlässigten Faktors. Diese Bedeutung glauben wir aus dem Zusammenhang unsrer Grundanschauungen vom sozialen Leben klar zu verstehen. Jene vollendete Gemein- schaft, die wir als Ziel aufstellen, ist ein so unendliches Ideal wie die ewige Wahrheit. Und weil sie nun hienieden stets unerreicht bleibt, so hat sie die suchende Phantasie der Völker wie einzelner tief angelegter Menschen stets wieder, sei es in ein überweltliches Jenseits geflüchtet, oder in einen unmessbar fernen idealen Endzustand des Menschengeschlechts hier auf Erden hinausgeschoben. Die Wissenschaft bescheidet sich, dass sie vom Jenseits nichts zu sagen hat, und auch ein Ziel unsres Erdenwallens, im Sinne eines mit Sicherheit ein- treffenden herrlichen Endes der menschheitlichen Entwicklung nicht zu errechnen vermag. Aber die Richtung des vom ge- gebenen Punkte an einzuschlagenden Weges getraut sie sich wohl anzugeben. Auch das Ziel ist sie imstande zu bestimmen, obwohl nur in einer allgemeinen Formel, nur als "Idee", d. i. als bloss gedanklichen Richtpunkt zur Orientierung auf der unendlichen Bahn endlicher Erfahrung. Sie begreift, dass dies Ziel auf keiner gegebenen Stufe menschlicher Entwicklung schlechthin erreicht auch nur gedacht werden darf. Und so besteht die Aufgabe der Erziehung immer fort, wie für den einzelnen Menschen, so für die Menschheit im Ganzen. Auch mit allen jenen ineinandergreifenden Mitteln sozialer Erziehung, die wir der Reihe nach erwogen haben, kann nichts Andres erreicht werden als ein ungehemmtes Fortschreiten; nie ein Stillstand beim erreichten Ziel. Das ist aber dem Sinne der Religion ganz entgegen; sie lechzt nach etwas, wobei man sich, wenigstens im Gedanken, beruhigen könne; was nicht immer wieder unser sehnsüchtiges Verlangen täuscht. Sie möchte dem tausendfältig in die Irre getriebenen Menschen- geist ein seliges Genügen verschaffen, einmal für ewig; nicht ihn rastlos immer wieder aufs neue hinaustreiben zu fernerem und fernerem Suchen nach etwas, das, so scheint es, doch ewig unfindbar bleibt.
sonst so wenig spürt, sondern auf der wachsenden Erkennt- nis eben der sozialen Bedeutung dieses zeitweilig allzu sehr vernachlässigten Faktors. Diese Bedeutung glauben wir aus dem Zusammenhang unsrer Grundanschauungen vom sozialen Leben klar zu verstehen. Jene vollendete Gemein- schaft, die wir als Ziel aufstellen, ist ein so unendliches Ideal wie die ewige Wahrheit. Und weil sie nun hienieden stets unerreicht bleibt, so hat sie die suchende Phantasie der Völker wie einzelner tief angelegter Menschen stets wieder, sei es in ein überweltliches Jenseits geflüchtet, oder in einen unmessbar fernen idealen Endzustand des Menschengeschlechts hier auf Erden hinausgeschoben. Die Wissenschaft bescheidet sich, dass sie vom Jenseits nichts zu sagen hat, und auch ein Ziel unsres Erdenwallens, im Sinne eines mit Sicherheit ein- treffenden herrlichen Endes der menschheitlichen Entwicklung nicht zu errechnen vermag. Aber die Richtung des vom ge- gebenen Punkte an einzuschlagenden Weges getraut sie sich wohl anzugeben. Auch das Ziel ist sie imstande zu bestimmen, obwohl nur in einer allgemeinen Formel, nur als „Idee“, d. i. als bloss gedanklichen Richtpunkt zur Orientierung auf der unendlichen Bahn endlicher Erfahrung. Sie begreift, dass dies Ziel auf keiner gegebenen Stufe menschlicher Entwicklung schlechthin erreicht auch nur gedacht werden darf. Und so besteht die Aufgabe der Erziehung immer fort, wie für den einzelnen Menschen, so für die Menschheit im Ganzen. Auch mit allen jenen ineinandergreifenden Mitteln sozialer Erziehung, die wir der Reihe nach erwogen haben, kann nichts Andres erreicht werden als ein ungehemmtes Fortschreiten; nie ein Stillstand beim erreichten Ziel. Das ist aber dem Sinne der Religion ganz entgegen; sie lechzt nach etwas, wobei man sich, wenigstens im Gedanken, beruhigen könne; was nicht immer wieder unser sehnsüchtiges Verlangen täuscht. Sie möchte dem tausendfältig in die Irre getriebenen Menschen- geist ein seliges Genügen verschaffen, einmal für ewig; nicht ihn rastlos immer wieder aufs neue hinaustreiben zu fernerem und fernerem Suchen nach etwas, das, so scheint es, doch ewig unfindbar bleibt.
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sonst so wenig spürt, sondern auf der wachsenden Erkennt-
nis eben der sozialen Bedeutung dieses zeitweilig allzu
sehr vernachlässigten Faktors. Diese Bedeutung glauben wir
aus dem Zusammenhang unsrer Grundanschauungen vom
sozialen Leben klar zu verstehen. Jene vollendete Gemein-
schaft, die wir als Ziel aufstellen, ist ein so unendliches
Ideal wie die ewige Wahrheit. Und weil sie nun hienieden
stets unerreicht bleibt, so hat sie die suchende Phantasie der
Völker wie einzelner tief angelegter Menschen stets wieder,
sei es in ein überweltliches Jenseits geflüchtet, oder in einen
unmessbar fernen idealen Endzustand des Menschengeschlechts
hier auf Erden hinausgeschoben. Die Wissenschaft bescheidet
sich, dass sie vom Jenseits nichts zu sagen hat, und auch ein
Ziel unsres Erdenwallens, im Sinne eines mit Sicherheit ein-
treffenden herrlichen Endes der menschheitlichen Entwicklung
nicht zu errechnen vermag. Aber die Richtung des vom ge-
gebenen Punkte an einzuschlagenden Weges getraut sie sich
wohl anzugeben. Auch das Ziel ist sie imstande zu bestimmen,
obwohl nur in einer allgemeinen Formel, nur als „Idee“, d. i.
als bloss gedanklichen Richtpunkt zur Orientierung auf der
unendlichen Bahn endlicher Erfahrung. Sie begreift, dass dies
Ziel auf keiner gegebenen Stufe menschlicher Entwicklung
schlechthin erreicht auch nur gedacht werden darf. Und so
besteht die Aufgabe der Erziehung immer fort, wie für den
einzelnen Menschen, so für die Menschheit im Ganzen. Auch
mit allen jenen ineinandergreifenden Mitteln sozialer Erziehung,
die wir der Reihe nach erwogen haben, kann nichts Andres
erreicht werden als ein ungehemmtes Fortschreiten; nie
ein Stillstand beim erreichten Ziel. Das ist aber dem Sinne
der Religion ganz entgegen; sie lechzt nach etwas, wobei man
sich, wenigstens im Gedanken, beruhigen könne; was nicht
immer wieder unser sehnsüchtiges Verlangen täuscht. Sie
möchte dem tausendfältig in die Irre getriebenen Menschen-
geist ein seliges Genügen verschaffen, einmal für ewig;
nicht ihn rastlos immer wieder aufs neue hinaustreiben zu
fernerem und fernerem Suchen nach etwas, das, so scheint es,
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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 222. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/238>, abgerufen am 18.12.2024.
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