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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899.

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fältige Erfahrung als hoffnungslos erwiesen sei. Auch der
"Universitätsausdehnung" ist das oftmals zum Vorwurf ge-
macht worden, dass sie nichts als "einseitige Verstandesbildung"
anzubieten habe.

Dem gegenüber wäre zuerst an den schon geführten Nach-
weis zu erinnern, dass und weshalb die Schule und ihr wesent-
liches Mittel, der Unterricht, sich unmittelbar nur an den Ver-
stand wenden kann. Soweit die freie Bildung an dem Cha-
rakter des Unterrichts teilnimmt, gilt das also auch von ihr.
Aber, wenn überhaupt im Unterricht selbst ein Stück Er-
ziehung liegt, so ist zumal jene Befreiung des Gedankens, auf
die wir zielen, wahrlich auch eine sittliche Leistung. Sie be-
deutet die Erziehung zur ersten aller Tugenden, der Tugend
der Wahrheit
.

Sodann aber ist es in der That nicht unsre Meinung, dass
im blossen Unterricht die Erziehung der Erwachsenen sich
erschöpfe. Was darüber hinaus notwendig und möglich und
zwar in organisierter Art möglich ist, zeigt das Beispiel der
nordischen "Volkshochschule", die ihre Zöglinge für einige
Wintermonate nicht zu blossem Studium, sondern zu einem
vielseitig erziehenden, geordneten Zusammenleben in länd-
licher Stille vereint. Ganz das Gleiche ist nun zwar für die
grossen und beständig wachsenden städtischen Arbeitermassen,
um die es sich heute und bei uns an erster Stelle handelt,
nicht unmittelbar zu erreichen; auch darf man nicht darauf
warten, dass die Bedingungen dafür etwa künftig einmal gün-
stiger liegen. Aber etwas ganz Analoges ist denkbar, nämlich
eine enge, geregelte Verbindung der freien Bildungsarbeit
unter den Massen mit aller sonstigen Sorge für ihr leibliches
und sittliches Wohl, und zwar unter möglichst starker Heran-
ziehung zu eigener Mitthätigkeit. Auch diesen Weg hat man
hier und da (z. B. in Ostlondon), wenn auch erst unsicheren
Schritts, betreten. Man erkennt, dass gleichzeitig gesorgt
werden muss für gesunde Wohnung, Ernährung, Krankenpflege,
Spiel und edle Unterhaltung, geistige Fortbildung und Kunst-
pflege unter den arbeitenden Klassen. Indem man sie so,
nicht etwa zu gängeln, sondern gerade zur Selbständigkeit zu

fältige Erfahrung als hoffnungslos erwiesen sei. Auch der
„Universitätsausdehnung“ ist das oftmals zum Vorwurf ge-
macht worden, dass sie nichts als „einseitige Verstandesbildung“
anzubieten habe.

Dem gegenüber wäre zuerst an den schon geführten Nach-
weis zu erinnern, dass und weshalb die Schule und ihr wesent-
liches Mittel, der Unterricht, sich unmittelbar nur an den Ver-
stand wenden kann. Soweit die freie Bildung an dem Cha-
rakter des Unterrichts teilnimmt, gilt das also auch von ihr.
Aber, wenn überhaupt im Unterricht selbst ein Stück Er-
ziehung liegt, so ist zumal jene Befreiung des Gedankens, auf
die wir zielen, wahrlich auch eine sittliche Leistung. Sie be-
deutet die Erziehung zur ersten aller Tugenden, der Tugend
der Wahrheit
.

Sodann aber ist es in der That nicht unsre Meinung, dass
im blossen Unterricht die Erziehung der Erwachsenen sich
erschöpfe. Was darüber hinaus notwendig und möglich und
zwar in organisierter Art möglich ist, zeigt das Beispiel der
nordischen „Volkshochschule“, die ihre Zöglinge für einige
Wintermonate nicht zu blossem Studium, sondern zu einem
vielseitig erziehenden, geordneten Zusammenleben in länd-
licher Stille vereint. Ganz das Gleiche ist nun zwar für die
grossen und beständig wachsenden städtischen Arbeitermassen,
um die es sich heute und bei uns an erster Stelle handelt,
nicht unmittelbar zu erreichen; auch darf man nicht darauf
warten, dass die Bedingungen dafür etwa künftig einmal gün-
stiger liegen. Aber etwas ganz Analoges ist denkbar, nämlich
eine enge, geregelte Verbindung der freien Bildungsarbeit
unter den Massen mit aller sonstigen Sorge für ihr leibliches
und sittliches Wohl, und zwar unter möglichst starker Heran-
ziehung zu eigener Mitthätigkeit. Auch diesen Weg hat man
hier und da (z. B. in Ostlondon), wenn auch erst unsicheren
Schritts, betreten. Man erkennt, dass gleichzeitig gesorgt
werden muss für gesunde Wohnung, Ernährung, Krankenpflege,
Spiel und edle Unterhaltung, geistige Fortbildung und Kunst-
pflege unter den arbeitenden Klassen. Indem man sie so,
nicht etwa zu gängeln, sondern gerade zur Selbständigkeit zu

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[219/0235] fältige Erfahrung als hoffnungslos erwiesen sei. Auch der „Universitätsausdehnung“ ist das oftmals zum Vorwurf ge- macht worden, dass sie nichts als „einseitige Verstandesbildung“ anzubieten habe. Dem gegenüber wäre zuerst an den schon geführten Nach- weis zu erinnern, dass und weshalb die Schule und ihr wesent- liches Mittel, der Unterricht, sich unmittelbar nur an den Ver- stand wenden kann. Soweit die freie Bildung an dem Cha- rakter des Unterrichts teilnimmt, gilt das also auch von ihr. Aber, wenn überhaupt im Unterricht selbst ein Stück Er- ziehung liegt, so ist zumal jene Befreiung des Gedankens, auf die wir zielen, wahrlich auch eine sittliche Leistung. Sie be- deutet die Erziehung zur ersten aller Tugenden, der Tugend der Wahrheit. Sodann aber ist es in der That nicht unsre Meinung, dass im blossen Unterricht die Erziehung der Erwachsenen sich erschöpfe. Was darüber hinaus notwendig und möglich und zwar in organisierter Art möglich ist, zeigt das Beispiel der nordischen „Volkshochschule“, die ihre Zöglinge für einige Wintermonate nicht zu blossem Studium, sondern zu einem vielseitig erziehenden, geordneten Zusammenleben in länd- licher Stille vereint. Ganz das Gleiche ist nun zwar für die grossen und beständig wachsenden städtischen Arbeitermassen, um die es sich heute und bei uns an erster Stelle handelt, nicht unmittelbar zu erreichen; auch darf man nicht darauf warten, dass die Bedingungen dafür etwa künftig einmal gün- stiger liegen. Aber etwas ganz Analoges ist denkbar, nämlich eine enge, geregelte Verbindung der freien Bildungsarbeit unter den Massen mit aller sonstigen Sorge für ihr leibliches und sittliches Wohl, und zwar unter möglichst starker Heran- ziehung zu eigener Mitthätigkeit. Auch diesen Weg hat man hier und da (z. B. in Ostlondon), wenn auch erst unsicheren Schritts, betreten. Man erkennt, dass gleichzeitig gesorgt werden muss für gesunde Wohnung, Ernährung, Krankenpflege, Spiel und edle Unterhaltung, geistige Fortbildung und Kunst- pflege unter den arbeitenden Klassen. Indem man sie so, nicht etwa zu gängeln, sondern gerade zur Selbständigkeit zu

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Zitationshilfe: Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 219. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/235>, abgerufen am 24.11.2024.