fältige Erfahrung als hoffnungslos erwiesen sei. Auch der "Universitätsausdehnung" ist das oftmals zum Vorwurf ge- macht worden, dass sie nichts als "einseitige Verstandesbildung" anzubieten habe.
Dem gegenüber wäre zuerst an den schon geführten Nach- weis zu erinnern, dass und weshalb die Schule und ihr wesent- liches Mittel, der Unterricht, sich unmittelbar nur an den Ver- stand wenden kann. Soweit die freie Bildung an dem Cha- rakter des Unterrichts teilnimmt, gilt das also auch von ihr. Aber, wenn überhaupt im Unterricht selbst ein Stück Er- ziehung liegt, so ist zumal jene Befreiung des Gedankens, auf die wir zielen, wahrlich auch eine sittliche Leistung. Sie be- deutet die Erziehung zur ersten aller Tugenden, der Tugend der Wahrheit.
Sodann aber ist es in der That nicht unsre Meinung, dass im blossen Unterricht die Erziehung der Erwachsenen sich erschöpfe. Was darüber hinaus notwendig und möglich und zwar in organisierter Art möglich ist, zeigt das Beispiel der nordischen "Volkshochschule", die ihre Zöglinge für einige Wintermonate nicht zu blossem Studium, sondern zu einem vielseitig erziehenden, geordneten Zusammenleben in länd- licher Stille vereint. Ganz das Gleiche ist nun zwar für die grossen und beständig wachsenden städtischen Arbeitermassen, um die es sich heute und bei uns an erster Stelle handelt, nicht unmittelbar zu erreichen; auch darf man nicht darauf warten, dass die Bedingungen dafür etwa künftig einmal gün- stiger liegen. Aber etwas ganz Analoges ist denkbar, nämlich eine enge, geregelte Verbindung der freien Bildungsarbeit unter den Massen mit aller sonstigen Sorge für ihr leibliches und sittliches Wohl, und zwar unter möglichst starker Heran- ziehung zu eigener Mitthätigkeit. Auch diesen Weg hat man hier und da (z. B. in Ostlondon), wenn auch erst unsicheren Schritts, betreten. Man erkennt, dass gleichzeitig gesorgt werden muss für gesunde Wohnung, Ernährung, Krankenpflege, Spiel und edle Unterhaltung, geistige Fortbildung und Kunst- pflege unter den arbeitenden Klassen. Indem man sie so, nicht etwa zu gängeln, sondern gerade zur Selbständigkeit zu
fältige Erfahrung als hoffnungslos erwiesen sei. Auch der „Universitätsausdehnung“ ist das oftmals zum Vorwurf ge- macht worden, dass sie nichts als „einseitige Verstandesbildung“ anzubieten habe.
Dem gegenüber wäre zuerst an den schon geführten Nach- weis zu erinnern, dass und weshalb die Schule und ihr wesent- liches Mittel, der Unterricht, sich unmittelbar nur an den Ver- stand wenden kann. Soweit die freie Bildung an dem Cha- rakter des Unterrichts teilnimmt, gilt das also auch von ihr. Aber, wenn überhaupt im Unterricht selbst ein Stück Er- ziehung liegt, so ist zumal jene Befreiung des Gedankens, auf die wir zielen, wahrlich auch eine sittliche Leistung. Sie be- deutet die Erziehung zur ersten aller Tugenden, der Tugend der Wahrheit.
Sodann aber ist es in der That nicht unsre Meinung, dass im blossen Unterricht die Erziehung der Erwachsenen sich erschöpfe. Was darüber hinaus notwendig und möglich und zwar in organisierter Art möglich ist, zeigt das Beispiel der nordischen „Volkshochschule“, die ihre Zöglinge für einige Wintermonate nicht zu blossem Studium, sondern zu einem vielseitig erziehenden, geordneten Zusammenleben in länd- licher Stille vereint. Ganz das Gleiche ist nun zwar für die grossen und beständig wachsenden städtischen Arbeitermassen, um die es sich heute und bei uns an erster Stelle handelt, nicht unmittelbar zu erreichen; auch darf man nicht darauf warten, dass die Bedingungen dafür etwa künftig einmal gün- stiger liegen. Aber etwas ganz Analoges ist denkbar, nämlich eine enge, geregelte Verbindung der freien Bildungsarbeit unter den Massen mit aller sonstigen Sorge für ihr leibliches und sittliches Wohl, und zwar unter möglichst starker Heran- ziehung zu eigener Mitthätigkeit. Auch diesen Weg hat man hier und da (z. B. in Ostlondon), wenn auch erst unsicheren Schritts, betreten. Man erkennt, dass gleichzeitig gesorgt werden muss für gesunde Wohnung, Ernährung, Krankenpflege, Spiel und edle Unterhaltung, geistige Fortbildung und Kunst- pflege unter den arbeitenden Klassen. Indem man sie so, nicht etwa zu gängeln, sondern gerade zur Selbständigkeit zu
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0235"n="219"/>
fältige Erfahrung als hoffnungslos erwiesen sei. Auch der<lb/>„Universitätsausdehnung“ ist das oftmals zum Vorwurf ge-<lb/>
macht worden, dass sie nichts als „einseitige Verstandesbildung“<lb/>
anzubieten habe.</p><lb/><p>Dem gegenüber wäre zuerst an den schon geführten Nach-<lb/>
weis zu erinnern, dass und weshalb die Schule und ihr wesent-<lb/>
liches Mittel, der Unterricht, sich unmittelbar nur an den Ver-<lb/>
stand wenden <hirendition="#g">kann</hi>. Soweit die freie Bildung an dem Cha-<lb/>
rakter des Unterrichts teilnimmt, gilt das also auch von ihr.<lb/>
Aber, wenn überhaupt im Unterricht selbst ein Stück Er-<lb/>
ziehung liegt, so ist zumal jene Befreiung des Gedankens, auf<lb/>
die wir zielen, wahrlich auch eine sittliche Leistung. Sie be-<lb/>
deutet die Erziehung zur ersten aller Tugenden, der <hirendition="#g">Tugend<lb/>
der Wahrheit</hi>.</p><lb/><p>Sodann aber ist es in der That nicht unsre Meinung, dass<lb/>
im blossen Unterricht die Erziehung der Erwachsenen sich<lb/>
erschöpfe. Was darüber hinaus notwendig und möglich und<lb/>
zwar in organisierter Art möglich ist, zeigt das Beispiel der<lb/>
nordischen „Volkshochschule“, die ihre Zöglinge für einige<lb/>
Wintermonate nicht zu blossem Studium, sondern zu einem<lb/>
vielseitig erziehenden, geordneten Zusammen<hirendition="#g">leben</hi> in länd-<lb/>
licher Stille vereint. Ganz das Gleiche ist nun zwar für die<lb/>
grossen und beständig wachsenden städtischen Arbeitermassen,<lb/>
um die es sich heute und bei uns an erster Stelle handelt,<lb/>
nicht unmittelbar zu erreichen; auch darf man nicht darauf<lb/>
warten, dass die Bedingungen dafür etwa künftig einmal gün-<lb/>
stiger liegen. Aber etwas ganz Analoges ist denkbar, nämlich<lb/>
eine enge, geregelte Verbindung der freien Bildungsarbeit<lb/>
unter den Massen mit aller sonstigen Sorge für ihr leibliches<lb/>
und sittliches Wohl, und zwar unter möglichst starker Heran-<lb/>
ziehung zu eigener Mitthätigkeit. Auch diesen Weg hat man<lb/>
hier und da (z. B. in Ostlondon), wenn auch erst unsicheren<lb/>
Schritts, betreten. Man erkennt, dass <hirendition="#g">gleichzeitig</hi> gesorgt<lb/>
werden muss für gesunde Wohnung, Ernährung, Krankenpflege,<lb/>
Spiel und edle Unterhaltung, geistige Fortbildung und Kunst-<lb/>
pflege unter den arbeitenden Klassen. Indem man sie so,<lb/>
nicht etwa zu gängeln, sondern gerade zur Selbständigkeit zu<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[219/0235]
fältige Erfahrung als hoffnungslos erwiesen sei. Auch der
„Universitätsausdehnung“ ist das oftmals zum Vorwurf ge-
macht worden, dass sie nichts als „einseitige Verstandesbildung“
anzubieten habe.
Dem gegenüber wäre zuerst an den schon geführten Nach-
weis zu erinnern, dass und weshalb die Schule und ihr wesent-
liches Mittel, der Unterricht, sich unmittelbar nur an den Ver-
stand wenden kann. Soweit die freie Bildung an dem Cha-
rakter des Unterrichts teilnimmt, gilt das also auch von ihr.
Aber, wenn überhaupt im Unterricht selbst ein Stück Er-
ziehung liegt, so ist zumal jene Befreiung des Gedankens, auf
die wir zielen, wahrlich auch eine sittliche Leistung. Sie be-
deutet die Erziehung zur ersten aller Tugenden, der Tugend
der Wahrheit.
Sodann aber ist es in der That nicht unsre Meinung, dass
im blossen Unterricht die Erziehung der Erwachsenen sich
erschöpfe. Was darüber hinaus notwendig und möglich und
zwar in organisierter Art möglich ist, zeigt das Beispiel der
nordischen „Volkshochschule“, die ihre Zöglinge für einige
Wintermonate nicht zu blossem Studium, sondern zu einem
vielseitig erziehenden, geordneten Zusammenleben in länd-
licher Stille vereint. Ganz das Gleiche ist nun zwar für die
grossen und beständig wachsenden städtischen Arbeitermassen,
um die es sich heute und bei uns an erster Stelle handelt,
nicht unmittelbar zu erreichen; auch darf man nicht darauf
warten, dass die Bedingungen dafür etwa künftig einmal gün-
stiger liegen. Aber etwas ganz Analoges ist denkbar, nämlich
eine enge, geregelte Verbindung der freien Bildungsarbeit
unter den Massen mit aller sonstigen Sorge für ihr leibliches
und sittliches Wohl, und zwar unter möglichst starker Heran-
ziehung zu eigener Mitthätigkeit. Auch diesen Weg hat man
hier und da (z. B. in Ostlondon), wenn auch erst unsicheren
Schritts, betreten. Man erkennt, dass gleichzeitig gesorgt
werden muss für gesunde Wohnung, Ernährung, Krankenpflege,
Spiel und edle Unterhaltung, geistige Fortbildung und Kunst-
pflege unter den arbeitenden Klassen. Indem man sie so,
nicht etwa zu gängeln, sondern gerade zur Selbständigkeit zu
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 219. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/235>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.