zum Verständig-Praktischen; erst die dritte führt auf die Höhe der praktischen Vernunft oder der freien Sittlichkeit. Das wesentliche Mittel dazu ist Vertiefung des Selbstbewusstseins. Diese aber ist einerseits durch Gemeinschaft bedingt, andrer- seits führt sie zur Gemeinschaft (§§ 9, 10). Denn dasselbe Gesetz des Menschentums, das für den Einzelnen den Grund der Einheit seines Selbstbewusstseins ausmacht, begründet zu- gleich die Einheit des Bewusstseins unter Vielen, ja unter allen des Selbstbewusstseins Fähigen, d. h. der Idee nach unter allen Menschen. So wurzelt im praktischen Selbstbewusstsein das sittliche Bewusstsein, als identisch mit dem Gemeinschafts- bewusstsein auf der Stufe der Vernunft.
Nun ist zwar die sittliche Gemeinschaft eine rein innere. Sie geht nicht auf in der Gemeinsamkeit der Arbeit und der um ihretwillen notwendigen äusseren Organisation; sie hat ihr Leben und die Wurzel ihrer Kraft ganz in der inneren Ge- sinnung der sich Verbindenden. Es fragt sich, wie eine solche Gemeinschaft dennoch einer Organisation fähig, ja mit ihr auch nur verträglich ist.
Man könnte sich denken, dass die äussere Ordnung selbst -- die der Wirtschaft, wenn wir sie der Materie, oder des Rechts, wenn wir sie der Form nach bezeichnen -- sich mit sittlichem Geiste so durchdränge, dass sie gleichsam als ein getreuer Abdruck der sittlichen Ordnung erschiene. Allein wir wissen, dass das unbedingte, unendliche Ziel des Sittlichen in den bedingten und endlichen Ordnungen der Wirtschaft und des Rechts nie adäquat dargestellt sein kann. Andrerseits ist die sittliche Ordnung eines eigenen und zwar sinnlichen Aus- drucks zwar fähig, aber nur eines symbolischen. Es lässt sich eine äussere Darstellung der seinsollenden sittlichen Ordnung und damit Gemeinschaft denken, die nicht wie Wirtschaft und Recht aus dem Zwange der Lebensnot erwächst und ihre Spuren allenthalben sichtbar trägt, sondern in Freiheit, rein aus dem Ausdrucksbedürfnis, gleichsam der poetischen Kraft der sittlichen Vernunft hervorbricht. Eine allgemeine Festfeier etwa, die ganz ihren Sinn erfüllte, die aus wahrer Einheit der Gesinnung flösse, würde davon einen Begriff geben. Sie
zum Verständig-Praktischen; erst die dritte führt auf die Höhe der praktischen Vernunft oder der freien Sittlichkeit. Das wesentliche Mittel dazu ist Vertiefung des Selbstbewusstseins. Diese aber ist einerseits durch Gemeinschaft bedingt, andrer- seits führt sie zur Gemeinschaft (§§ 9, 10). Denn dasselbe Gesetz des Menschentums, das für den Einzelnen den Grund der Einheit seines Selbstbewusstseins ausmacht, begründet zu- gleich die Einheit des Bewusstseins unter Vielen, ja unter allen des Selbstbewusstseins Fähigen, d. h. der Idee nach unter allen Menschen. So wurzelt im praktischen Selbstbewusstsein das sittliche Bewusstsein, als identisch mit dem Gemeinschafts- bewusstsein auf der Stufe der Vernunft.
Nun ist zwar die sittliche Gemeinschaft eine rein innere. Sie geht nicht auf in der Gemeinsamkeit der Arbeit und der um ihretwillen notwendigen äusseren Organisation; sie hat ihr Leben und die Wurzel ihrer Kraft ganz in der inneren Ge- sinnung der sich Verbindenden. Es fragt sich, wie eine solche Gemeinschaft dennoch einer Organisation fähig, ja mit ihr auch nur verträglich ist.
Man könnte sich denken, dass die äussere Ordnung selbst — die der Wirtschaft, wenn wir sie der Materie, oder des Rechts, wenn wir sie der Form nach bezeichnen — sich mit sittlichem Geiste so durchdränge, dass sie gleichsam als ein getreuer Abdruck der sittlichen Ordnung erschiene. Allein wir wissen, dass das unbedingte, unendliche Ziel des Sittlichen in den bedingten und endlichen Ordnungen der Wirtschaft und des Rechts nie adäquat dargestellt sein kann. Andrerseits ist die sittliche Ordnung eines eigenen und zwar sinnlichen Aus- drucks zwar fähig, aber nur eines symbolischen. Es lässt sich eine äussere Darstellung der seinsollenden sittlichen Ordnung und damit Gemeinschaft denken, die nicht wie Wirtschaft und Recht aus dem Zwange der Lebensnot erwächst und ihre Spuren allenthalben sichtbar trägt, sondern in Freiheit, rein aus dem Ausdrucksbedürfnis, gleichsam der poetischen Kraft der sittlichen Vernunft hervorbricht. Eine allgemeine Festfeier etwa, die ganz ihren Sinn erfüllte, die aus wahrer Einheit der Gesinnung flösse, würde davon einen Begriff geben. Sie
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zum Verständig-Praktischen; erst die dritte führt auf die Höhe
der praktischen Vernunft oder der freien Sittlichkeit. Das
wesentliche Mittel dazu ist Vertiefung des Selbstbewusstseins.
Diese aber ist einerseits durch Gemeinschaft bedingt, andrer-
seits führt sie zur Gemeinschaft (§§ 9, 10). Denn dasselbe
Gesetz des Menschentums, das für den Einzelnen den Grund
der Einheit seines Selbstbewusstseins ausmacht, begründet zu-
gleich die Einheit des Bewusstseins unter Vielen, ja unter
allen des Selbstbewusstseins Fähigen, d. h. der Idee nach unter
allen Menschen. So wurzelt im praktischen Selbstbewusstsein
das sittliche Bewusstsein, als identisch mit dem Gemeinschafts-
bewusstsein auf der Stufe der Vernunft.
Nun ist zwar die sittliche Gemeinschaft eine rein innere.
Sie geht nicht auf in der Gemeinsamkeit der Arbeit und der
um ihretwillen notwendigen äusseren Organisation; sie hat ihr
Leben und die Wurzel ihrer Kraft ganz in der inneren Ge-
sinnung der sich Verbindenden. Es fragt sich, wie eine solche
Gemeinschaft dennoch einer Organisation fähig, ja mit ihr auch
nur verträglich ist.
Man könnte sich denken, dass die äussere Ordnung selbst
— die der Wirtschaft, wenn wir sie der Materie, oder des
Rechts, wenn wir sie der Form nach bezeichnen — sich mit
sittlichem Geiste so durchdränge, dass sie gleichsam als ein
getreuer Abdruck der sittlichen Ordnung erschiene. Allein
wir wissen, dass das unbedingte, unendliche Ziel des Sittlichen
in den bedingten und endlichen Ordnungen der Wirtschaft und
des Rechts nie adäquat dargestellt sein kann. Andrerseits ist
die sittliche Ordnung eines eigenen und zwar sinnlichen Aus-
drucks zwar fähig, aber nur eines symbolischen. Es lässt sich
eine äussere Darstellung der seinsollenden sittlichen Ordnung
und damit Gemeinschaft denken, die nicht wie Wirtschaft und
Recht aus dem Zwange der Lebensnot erwächst und ihre
Spuren allenthalben sichtbar trägt, sondern in Freiheit, rein
aus dem Ausdrucksbedürfnis, gleichsam der poetischen Kraft
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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 214. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/230>, abgerufen am 24.11.2024.
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