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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899.

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Selbst die Klassen einer einzigen Nation müssen sich in ähn-
lichem Verhältnis gegenüberstehen, so lange und in dem
Maasse wie die Schulbildung oder auch nur gewisse höhere
Grade derselben das Privileg einer Klasse sind. Nur wird
sich innerhalb eines Volkes die Kluft nicht leicht bis dahin
erweitern, dass sie nicht bei entschiedenem Willen wieder ge-
schlossen werden könnte. Die Idee der Nationalschule ist un-
trennbar von der demokratischen Entwicklung der modernen
Völker; durch sie ist ein Volk im modernen Sinne überhaupt
erst möglich; und es lässt sich mit Bestimmtheit vorhersagen:
die Völker werden fortan die führenden sein auf Erden, welche
diese Idee am reinsten verwirklichen.

Welche Organisation des Schulwesens nun würde
dieser Idee etwa entsprechen? -- Zuerst, es dürften nicht von
Anfang an nach Rang, Lehrplan und Berechtigungen ver-
schiedene Schulen neben einander bestehen, sondern eine einzige
Schulgattung müsste zunächst alle Kinder aufnehmen, und es
müsste an der vollen Gemeinsamkeit der Schulerziehung so
lange festgehalten werden, als irgend die notwendige Rücksicht
auf die besonderen Forderungen der Berufsbildung es gestattet.
Denn die Sonderung ist allein durch die verschiedenen Er-
fordernisse der einzelnen Berufe bedingt; die Berufsbildung
aber ist nach Pestalozzi's Grundsatz unbedingt unterzuordnen
der humanen Bildung d. i. der möglichst gleichmässigen,
harmonischen Entfaltung der menschlichen Grundkräfte. Die
Berufspflicht selbst erwächst erst aus dem sittlichen Verhält-
nis des Einzelnen zur Gemeinschaft. Sie kann im eigenen
Bewusstsein des Menschen nur lebendig sein, wo das Bewusst-
sein der Zugehörigkeit zur Gemeinschaft bis zu unerschütter-
licher Festigkeit erstarkt ist. Das ist aber allgemein nur zu
erreichen, wenn jedem bis zum geringsten herab ein voll-
gewichtiger Anteil an menschlicher Grundbildung, es koste
was es wolle, gewährt wird; wenn aller Unterschied der
Stände und Klassen hinsichtlich des Anspruchs auf allgemeine
Menschenbildung verschwindet. Das haben Pestalozzi, Fichte,
Schleiermacher gefordert, das der Frh. vom Stein und alle
Führer der damaligen Neugründung der Schule Preussens zur

Selbst die Klassen einer einzigen Nation müssen sich in ähn-
lichem Verhältnis gegenüberstehen, so lange und in dem
Maasse wie die Schulbildung oder auch nur gewisse höhere
Grade derselben das Privileg einer Klasse sind. Nur wird
sich innerhalb eines Volkes die Kluft nicht leicht bis dahin
erweitern, dass sie nicht bei entschiedenem Willen wieder ge-
schlossen werden könnte. Die Idee der Nationalschule ist un-
trennbar von der demokratischen Entwicklung der modernen
Völker; durch sie ist ein Volk im modernen Sinne überhaupt
erst möglich; und es lässt sich mit Bestimmtheit vorhersagen:
die Völker werden fortan die führenden sein auf Erden, welche
diese Idee am reinsten verwirklichen.

Welche Organisation des Schulwesens nun würde
dieser Idee etwa entsprechen? — Zuerst, es dürften nicht von
Anfang an nach Rang, Lehrplan und Berechtigungen ver-
schiedene Schulen neben einander bestehen, sondern eine einzige
Schulgattung müsste zunächst alle Kinder aufnehmen, und es
müsste an der vollen Gemeinsamkeit der Schulerziehung so
lange festgehalten werden, als irgend die notwendige Rücksicht
auf die besonderen Forderungen der Berufsbildung es gestattet.
Denn die Sonderung ist allein durch die verschiedenen Er-
fordernisse der einzelnen Berufe bedingt; die Berufsbildung
aber ist nach Pestalozzi’s Grundsatz unbedingt unterzuordnen
der humanen Bildung d. i. der möglichst gleichmässigen,
harmonischen Entfaltung der menschlichen Grundkräfte. Die
Berufspflicht selbst erwächst erst aus dem sittlichen Verhält-
nis des Einzelnen zur Gemeinschaft. Sie kann im eigenen
Bewusstsein des Menschen nur lebendig sein, wo das Bewusst-
sein der Zugehörigkeit zur Gemeinschaft bis zu unerschütter-
licher Festigkeit erstarkt ist. Das ist aber allgemein nur zu
erreichen, wenn jedem bis zum geringsten herab ein voll-
gewichtiger Anteil an menschlicher Grundbildung, es koste
was es wolle, gewährt wird; wenn aller Unterschied der
Stände und Klassen hinsichtlich des Anspruchs auf allgemeine
Menschenbildung verschwindet. Das haben Pestalozzi, Fichte,
Schleiermacher gefordert, das der Frh. vom Stein und alle
Führer der damaligen Neugründung der Schule Preussens zur

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[210/0226] Selbst die Klassen einer einzigen Nation müssen sich in ähn- lichem Verhältnis gegenüberstehen, so lange und in dem Maasse wie die Schulbildung oder auch nur gewisse höhere Grade derselben das Privileg einer Klasse sind. Nur wird sich innerhalb eines Volkes die Kluft nicht leicht bis dahin erweitern, dass sie nicht bei entschiedenem Willen wieder ge- schlossen werden könnte. Die Idee der Nationalschule ist un- trennbar von der demokratischen Entwicklung der modernen Völker; durch sie ist ein Volk im modernen Sinne überhaupt erst möglich; und es lässt sich mit Bestimmtheit vorhersagen: die Völker werden fortan die führenden sein auf Erden, welche diese Idee am reinsten verwirklichen. Welche Organisation des Schulwesens nun würde dieser Idee etwa entsprechen? — Zuerst, es dürften nicht von Anfang an nach Rang, Lehrplan und Berechtigungen ver- schiedene Schulen neben einander bestehen, sondern eine einzige Schulgattung müsste zunächst alle Kinder aufnehmen, und es müsste an der vollen Gemeinsamkeit der Schulerziehung so lange festgehalten werden, als irgend die notwendige Rücksicht auf die besonderen Forderungen der Berufsbildung es gestattet. Denn die Sonderung ist allein durch die verschiedenen Er- fordernisse der einzelnen Berufe bedingt; die Berufsbildung aber ist nach Pestalozzi’s Grundsatz unbedingt unterzuordnen der humanen Bildung d. i. der möglichst gleichmässigen, harmonischen Entfaltung der menschlichen Grundkräfte. Die Berufspflicht selbst erwächst erst aus dem sittlichen Verhält- nis des Einzelnen zur Gemeinschaft. Sie kann im eigenen Bewusstsein des Menschen nur lebendig sein, wo das Bewusst- sein der Zugehörigkeit zur Gemeinschaft bis zu unerschütter- licher Festigkeit erstarkt ist. Das ist aber allgemein nur zu erreichen, wenn jedem bis zum geringsten herab ein voll- gewichtiger Anteil an menschlicher Grundbildung, es koste was es wolle, gewährt wird; wenn aller Unterschied der Stände und Klassen hinsichtlich des Anspruchs auf allgemeine Menschenbildung verschwindet. Das haben Pestalozzi, Fichte, Schleiermacher gefordert, das der Frh. vom Stein und alle Führer der damaligen Neugründung der Schule Preussens zur

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Zitationshilfe: Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 210. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/226>, abgerufen am 25.11.2024.