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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899.

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organisierten Erziehungshäusern von möglichst frühem Alter
an verleiten. Vielleicht ist bei dem gegenwärtigen Zustand
etwas Andres als ein Surrogat der an sich geforderten Organi-
sation der Erziehung für das frühe Kindesalter nicht möglich.
Ein solches Surrogat dürfte gefunden sein in dem Fröbelschen
Kindergarten. Fröbel war einer der wenigen unter Pesta-
lozzis Nachfolgern, der von seinen Ideen etwas nach der eigent-
lich wichtigsten, der sozialen Seite begriffen hatte, und die
seitherige Entwicklung des Zustands der arbeitenden Klassen
ist es, die, zwar mehr ausserhalb Deutschlands als bei uns,
seiner Idee eine nicht zu unterschätzende thatsächliche Be-
deutung gegeben hat. In Frankreich und Nordamerika sind
die Grundzüge einer nationalen Gestaltung des Kindergarten-
wesens bereits klar zu erkennen. Bei uns besteht ein bisher
wenig erfolgreiches Bestreben, für die Erziehung der Kleinen
besonders in den ärmeren Volksklassen die Thätigkeit der
Frauen, nicht der Mütter allein, allgemein und in organisierter
Weise heranzuziehen. Sollte das als endgültige Lösung ge-
meint sein, so müsste man sagen, dass dabei zwei wichtige
Dinge übersehen sind. Erstens würde dem Manne noch mehr
als schon jetzt die Erziehung aus der Hand genommen, die
Abschüttelung der Erziehungspflicht, zu der bereits so vieles
verlockt, allzusehr erleichtert werden, zum gleich grossen
Schaden seiner selbst und des Kindes, das, wie hoch man auch
die mütterliche Erziehung anschlagen mag, doch der männ-
lichen Leitung nie sollte entbehren müssen. Zweitens wird
vorausgesetzt, dass dauernd und allgemein dem Manne allein
die Erwerbspflicht obliege. Das ist schon jetzt nicht der Fall,
und eine rückläufige Entwicklung ist auch in dieser Hinsicht
weder anzunehmen noch selbst zu wünschen.

Die Grundidee des Kindergartens ist vielmehr in genaue
Verbindung zu setzen mit dem Postulate der Wiederherstel-
lung eines häuslichen Lebens des Arbeiters selbst, in
einer solchen Form, die mit der bisher erreichten und weiter
fortschreitenden Konzentration der Wirtschaft vereinbar ist.
Wenn irgendwo, so kann hier die den heute gedrückten Klassen
zu leistende Hülfe nur Hülfe zur Selbsthülfe sein. Der klare Weg

organisierten Erziehungshäusern von möglichst frühem Alter
an verleiten. Vielleicht ist bei dem gegenwärtigen Zustand
etwas Andres als ein Surrogat der an sich geforderten Organi-
sation der Erziehung für das frühe Kindesalter nicht möglich.
Ein solches Surrogat dürfte gefunden sein in dem Fröbelschen
Kindergarten. Fröbel war einer der wenigen unter Pesta-
lozzis Nachfolgern, der von seinen Ideen etwas nach der eigent-
lich wichtigsten, der sozialen Seite begriffen hatte, und die
seitherige Entwicklung des Zustands der arbeitenden Klassen
ist es, die, zwar mehr ausserhalb Deutschlands als bei uns,
seiner Idee eine nicht zu unterschätzende thatsächliche Be-
deutung gegeben hat. In Frankreich und Nordamerika sind
die Grundzüge einer nationalen Gestaltung des Kindergarten-
wesens bereits klar zu erkennen. Bei uns besteht ein bisher
wenig erfolgreiches Bestreben, für die Erziehung der Kleinen
besonders in den ärmeren Volksklassen die Thätigkeit der
Frauen, nicht der Mütter allein, allgemein und in organisierter
Weise heranzuziehen. Sollte das als endgültige Lösung ge-
meint sein, so müsste man sagen, dass dabei zwei wichtige
Dinge übersehen sind. Erstens würde dem Manne noch mehr
als schon jetzt die Erziehung aus der Hand genommen, die
Abschüttelung der Erziehungspflicht, zu der bereits so vieles
verlockt, allzusehr erleichtert werden, zum gleich grossen
Schaden seiner selbst und des Kindes, das, wie hoch man auch
die mütterliche Erziehung anschlagen mag, doch der männ-
lichen Leitung nie sollte entbehren müssen. Zweitens wird
vorausgesetzt, dass dauernd und allgemein dem Manne allein
die Erwerbspflicht obliege. Das ist schon jetzt nicht der Fall,
und eine rückläufige Entwicklung ist auch in dieser Hinsicht
weder anzunehmen noch selbst zu wünschen.

Die Grundidee des Kindergartens ist vielmehr in genaue
Verbindung zu setzen mit dem Postulate der Wiederherstel-
lung eines häuslichen Lebens des Arbeiters selbst, in
einer solchen Form, die mit der bisher erreichten und weiter
fortschreitenden Konzentration der Wirtschaft vereinbar ist.
Wenn irgendwo, so kann hier die den heute gedrückten Klassen
zu leistende Hülfe nur Hülfe zur Selbsthülfe sein. Der klare Weg

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[198/0214] organisierten Erziehungshäusern von möglichst frühem Alter an verleiten. Vielleicht ist bei dem gegenwärtigen Zustand etwas Andres als ein Surrogat der an sich geforderten Organi- sation der Erziehung für das frühe Kindesalter nicht möglich. Ein solches Surrogat dürfte gefunden sein in dem Fröbelschen Kindergarten. Fröbel war einer der wenigen unter Pesta- lozzis Nachfolgern, der von seinen Ideen etwas nach der eigent- lich wichtigsten, der sozialen Seite begriffen hatte, und die seitherige Entwicklung des Zustands der arbeitenden Klassen ist es, die, zwar mehr ausserhalb Deutschlands als bei uns, seiner Idee eine nicht zu unterschätzende thatsächliche Be- deutung gegeben hat. In Frankreich und Nordamerika sind die Grundzüge einer nationalen Gestaltung des Kindergarten- wesens bereits klar zu erkennen. Bei uns besteht ein bisher wenig erfolgreiches Bestreben, für die Erziehung der Kleinen besonders in den ärmeren Volksklassen die Thätigkeit der Frauen, nicht der Mütter allein, allgemein und in organisierter Weise heranzuziehen. Sollte das als endgültige Lösung ge- meint sein, so müsste man sagen, dass dabei zwei wichtige Dinge übersehen sind. Erstens würde dem Manne noch mehr als schon jetzt die Erziehung aus der Hand genommen, die Abschüttelung der Erziehungspflicht, zu der bereits so vieles verlockt, allzusehr erleichtert werden, zum gleich grossen Schaden seiner selbst und des Kindes, das, wie hoch man auch die mütterliche Erziehung anschlagen mag, doch der männ- lichen Leitung nie sollte entbehren müssen. Zweitens wird vorausgesetzt, dass dauernd und allgemein dem Manne allein die Erwerbspflicht obliege. Das ist schon jetzt nicht der Fall, und eine rückläufige Entwicklung ist auch in dieser Hinsicht weder anzunehmen noch selbst zu wünschen. Die Grundidee des Kindergartens ist vielmehr in genaue Verbindung zu setzen mit dem Postulate der Wiederherstel- lung eines häuslichen Lebens des Arbeiters selbst, in einer solchen Form, die mit der bisher erreichten und weiter fortschreitenden Konzentration der Wirtschaft vereinbar ist. Wenn irgendwo, so kann hier die den heute gedrückten Klassen zu leistende Hülfe nur Hülfe zur Selbsthülfe sein. Der klare Weg

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Zitationshilfe: Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 198. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/214>, abgerufen am 24.11.2024.