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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899.

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halb jeder der am Kulturfortschritt meistbeteiligten Nationen
in Todfeindschaft gegenüberstehen, der letzte Grund nirgendwo
anders als in jener uralten sozialen Diskontinuität, in dem
Zerfall der Nationen in Arbeitende und Besitzende zu
suchen ist. In dem immer dringenderen Verlangen, dass es da-
mit anders werde, erkennen wir das Erwachen des Bewusst-
seins einer möglichen und notwendigen, zur Zeit aber nicht
vorhandenen Volksgemeinschaft. Allgemein aber sehen wir in
dem entscheidenden Hervortreten der wirtschaftlichen Fragen
nicht die Wirkung eines zu fürchtenden oder zu bekämpfenden
"Materialismus", sondern vielmehr das günstigste Vorzeichen
des Sieges der Vernunft. Denn, wo sie nicht mit ihrem
Lichte auch bis in das Innerste des Trieblebens hineinleuchtet,
wo nicht das ganze menschliche Leben auch bis zu seinen
letzten materialen Bedingungen zurück unter ihre sichere Herr-
schaft tritt, da kann von einem Siege der Vernunft nicht im
Ernst geredet werden, im sozialen so wenig wie im individu-
alen Leben, wo bisher niemand ein ungeregeltes Triebleben
mit sittlicher Vernunft vereinbar geglaubt hat.

Bei der Gerechtigkeit endlich, als der vierten Kar-
dinaltugend des Soziallebens, ist es kaum mehr nötig zu ver-
weilen. Denn sie ist bei der Behandlung der drei andern Tugen-
den schon fortwährend mitberücksichtigt worden. Als indivi-
duale Tugend bedeutete sie das Verhalten gemäss den Gesetzen
der drei andern Tugenden in Hinsicht der Gemeinschaft;
als soziale Tugend besagt sie umgekehrt die gleichheitliche
Geltung der übrigen Tugenden, eben als Tugenden des Ge-
meinschaftslebens, für alle einzelnen Glieder der Gemein-
schaft. Während also die Gerechtigkeit als individuale Tugend
besagt, dass ein jeder die Tugenden der Wahrheit, der Tapfer-
keit und des Maasses nicht bloss als Einzelner und um seinet-
willen, sondern auch gegen den Andern, insbesondere als Glied
der Gemeinschaft gegen andre Glieder derselben Gemeinschaft
und in gleichheitlicher Rücksicht gegen sie beweisen solle; so
besagt die Gerechtigkeit als Tugend der Gemeinschaft, sie
müsse so geordnet sein, dass ihre entsprechenden Tugenden
sich auf alle ihre Glieder in gleichheitlicher Weise erstrecken.

halb jeder der am Kulturfortschritt meistbeteiligten Nationen
in Todfeindschaft gegenüberstehen, der letzte Grund nirgendwo
anders als in jener uralten sozialen Diskontinuität, in dem
Zerfall der Nationen in Arbeitende und Besitzende zu
suchen ist. In dem immer dringenderen Verlangen, dass es da-
mit anders werde, erkennen wir das Erwachen des Bewusst-
seins einer möglichen und notwendigen, zur Zeit aber nicht
vorhandenen Volksgemeinschaft. Allgemein aber sehen wir in
dem entscheidenden Hervortreten der wirtschaftlichen Fragen
nicht die Wirkung eines zu fürchtenden oder zu bekämpfenden
„Materialismus“, sondern vielmehr das günstigste Vorzeichen
des Sieges der Vernunft. Denn, wo sie nicht mit ihrem
Lichte auch bis in das Innerste des Trieblebens hineinleuchtet,
wo nicht das ganze menschliche Leben auch bis zu seinen
letzten materialen Bedingungen zurück unter ihre sichere Herr-
schaft tritt, da kann von einem Siege der Vernunft nicht im
Ernst geredet werden, im sozialen so wenig wie im individu-
alen Leben, wo bisher niemand ein ungeregeltes Triebleben
mit sittlicher Vernunft vereinbar geglaubt hat.

Bei der Gerechtigkeit endlich, als der vierten Kar-
dinaltugend des Soziallebens, ist es kaum mehr nötig zu ver-
weilen. Denn sie ist bei der Behandlung der drei andern Tugen-
den schon fortwährend mitberücksichtigt worden. Als indivi-
duale Tugend bedeutete sie das Verhalten gemäss den Gesetzen
der drei andern Tugenden in Hinsicht der Gemeinschaft;
als soziale Tugend besagt sie umgekehrt die gleichheitliche
Geltung der übrigen Tugenden, eben als Tugenden des Ge-
meinschaftslebens, für alle einzelnen Glieder der Gemein-
schaft. Während also die Gerechtigkeit als individuale Tugend
besagt, dass ein jeder die Tugenden der Wahrheit, der Tapfer-
keit und des Maasses nicht bloss als Einzelner und um seinet-
willen, sondern auch gegen den Andern, insbesondere als Glied
der Gemeinschaft gegen andre Glieder derselben Gemeinschaft
und in gleichheitlicher Rücksicht gegen sie beweisen solle; so
besagt die Gerechtigkeit als Tugend der Gemeinschaft, sie
müsse so geordnet sein, dass ihre entsprechenden Tugenden
sich auf alle ihre Glieder in gleichheitlicher Weise erstrecken.

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[187/0203] halb jeder der am Kulturfortschritt meistbeteiligten Nationen in Todfeindschaft gegenüberstehen, der letzte Grund nirgendwo anders als in jener uralten sozialen Diskontinuität, in dem Zerfall der Nationen in Arbeitende und Besitzende zu suchen ist. In dem immer dringenderen Verlangen, dass es da- mit anders werde, erkennen wir das Erwachen des Bewusst- seins einer möglichen und notwendigen, zur Zeit aber nicht vorhandenen Volksgemeinschaft. Allgemein aber sehen wir in dem entscheidenden Hervortreten der wirtschaftlichen Fragen nicht die Wirkung eines zu fürchtenden oder zu bekämpfenden „Materialismus“, sondern vielmehr das günstigste Vorzeichen des Sieges der Vernunft. Denn, wo sie nicht mit ihrem Lichte auch bis in das Innerste des Trieblebens hineinleuchtet, wo nicht das ganze menschliche Leben auch bis zu seinen letzten materialen Bedingungen zurück unter ihre sichere Herr- schaft tritt, da kann von einem Siege der Vernunft nicht im Ernst geredet werden, im sozialen so wenig wie im individu- alen Leben, wo bisher niemand ein ungeregeltes Triebleben mit sittlicher Vernunft vereinbar geglaubt hat. Bei der Gerechtigkeit endlich, als der vierten Kar- dinaltugend des Soziallebens, ist es kaum mehr nötig zu ver- weilen. Denn sie ist bei der Behandlung der drei andern Tugen- den schon fortwährend mitberücksichtigt worden. Als indivi- duale Tugend bedeutete sie das Verhalten gemäss den Gesetzen der drei andern Tugenden in Hinsicht der Gemeinschaft; als soziale Tugend besagt sie umgekehrt die gleichheitliche Geltung der übrigen Tugenden, eben als Tugenden des Ge- meinschaftslebens, für alle einzelnen Glieder der Gemein- schaft. Während also die Gerechtigkeit als individuale Tugend besagt, dass ein jeder die Tugenden der Wahrheit, der Tapfer- keit und des Maasses nicht bloss als Einzelner und um seinet- willen, sondern auch gegen den Andern, insbesondere als Glied der Gemeinschaft gegen andre Glieder derselben Gemeinschaft und in gleichheitlicher Rücksicht gegen sie beweisen solle; so besagt die Gerechtigkeit als Tugend der Gemeinschaft, sie müsse so geordnet sein, dass ihre entsprechenden Tugenden sich auf alle ihre Glieder in gleichheitlicher Weise erstrecken.

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Zitationshilfe: Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 187. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/203>, abgerufen am 24.11.2024.