Affinität; wofür wir die geläufigeren Ausdrücke setzen: der Generalisation, der Individualisation und des steti- gen Uebergangs. Dies besagt: Naturerkenntnis strebt erstens zur höchsten erreichbaren Allgemeinheit und damit ge- schlossensten Einheit der Prinzipien, auf denen alle Natur- erkenntnis im letzten Grunde ruhen müsse. Sie strebt zweitens, gleichwohl die Einzelerscheinungen, und zwar je mehr und mehr in ihrer unverkürzten Individualität zu er- fassen; d. h. sie will die verlangte Einheit des Prinzips nicht etwa erschleichen durch irgendwelche Vergewaltigung oder be- queme Vernachlässigung der vollen Konkretion der Erfahrung; der gesunde Sinn des Empirismus, den der Idealismus, wie wir sehen, vollinhaltlich in sich aufzunehmen vermag. Diese beiden Forderungen, die leicht einander entgegengesetzt scheinen können, sind aber vereinbar, wenn drittens die scheinbar grenzenlose, daher unbestimmbare Mannigfaltigkeit der Er- scheinungen einen stetigen Uebergang erkennen, oder vielmehr sich a priori in solchem darstellen lässt, so dass nirgends Lücken bleiben, sondern sich voraussehen lässt, dass auch der erst vermisste Zusammenhang von einem Erschei- nungsgebiet zum andern sich genauerer Forschung endlich entdecken muss, zum mindesten in zulässiger Hypothese, einhellig mit aller bekannten Gesetzlichkeit der Natur sich wird konstruieren lassen. Es müsste lehreich sein, diese Prinzipien an der Geschichte der Wissenschaften in strenger Durchfüh- rung zu bewähren; dass sie sich aber bewähren, wird jeder, der mit einem beliebigen Forschungsgebiet historisch vertraut ist, ohne weiteres bejahen. Diese Prinzipien haben eine innere Notwendigkeit, die sich dem Prüfenden sofort fühlbar macht und mehr und mehr bestätigt. Ihre (hier nur anzu- deutende) zwingende Ableitung aber -- aus der Natur des Be- wusstseins überhaupt als Einheit des Mannigfaltigen und zwar durch Kontinuität, d. i. aus der Urfunktion des Den- kens, wie sie sich ebenso in den Kategorien, vorzüglich deut- lich in denen der Qualität ausspricht -- giebt der Ueberzeu- gung Gewicht, dass in der That dieselbe Gesetzlichkeit sich durchgehend auf allen Gebieten des Bewusstseins bewähren
Affinität; wofür wir die geläufigeren Ausdrücke setzen: der Generalisation, der Individualisation und des steti- gen Uebergangs. Dies besagt: Naturerkenntnis strebt erstens zur höchsten erreichbaren Allgemeinheit und damit ge- schlossensten Einheit der Prinzipien, auf denen alle Natur- erkenntnis im letzten Grunde ruhen müsse. Sie strebt zweitens, gleichwohl die Einzelerscheinungen, und zwar je mehr und mehr in ihrer unverkürzten Individualität zu er- fassen; d. h. sie will die verlangte Einheit des Prinzips nicht etwa erschleichen durch irgendwelche Vergewaltigung oder be- queme Vernachlässigung der vollen Konkretion der Erfahrung; der gesunde Sinn des Empirismus, den der Idealismus, wie wir sehen, vollinhaltlich in sich aufzunehmen vermag. Diese beiden Forderungen, die leicht einander entgegengesetzt scheinen können, sind aber vereinbar, wenn drittens die scheinbar grenzenlose, daher unbestimmbare Mannigfaltigkeit der Er- scheinungen einen stetigen Uebergang erkennen, oder vielmehr sich a priori in solchem darstellen lässt, so dass nirgends Lücken bleiben, sondern sich voraussehen lässt, dass auch der erst vermisste Zusammenhang von einem Erschei- nungsgebiet zum andern sich genauerer Forschung endlich entdecken muss, zum mindesten in zulässiger Hypothese, einhellig mit aller bekannten Gesetzlichkeit der Natur sich wird konstruieren lassen. Es müsste lehreich sein, diese Prinzipien an der Geschichte der Wissenschaften in strenger Durchfüh- rung zu bewähren; dass sie sich aber bewähren, wird jeder, der mit einem beliebigen Forschungsgebiet historisch vertraut ist, ohne weiteres bejahen. Diese Prinzipien haben eine innere Notwendigkeit, die sich dem Prüfenden sofort fühlbar macht und mehr und mehr bestätigt. Ihre (hier nur anzu- deutende) zwingende Ableitung aber — aus der Natur des Be- wusstseins überhaupt als Einheit des Mannigfaltigen und zwar durch Kontinuität, d. i. aus der Urfunktion des Den- kens, wie sie sich ebenso in den Kategorien, vorzüglich deut- lich in denen der Qualität ausspricht — giebt der Ueberzeu- gung Gewicht, dass in der That dieselbe Gesetzlichkeit sich durchgehend auf allen Gebieten des Bewusstseins bewähren
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Affinität; wofür wir die geläufigeren Ausdrücke setzen: der
Generalisation, der Individualisation und des steti-
gen Uebergangs. Dies besagt: Naturerkenntnis strebt
erstens zur höchsten erreichbaren Allgemeinheit und damit ge-
schlossensten Einheit der Prinzipien, auf denen alle Natur-
erkenntnis im letzten Grunde ruhen müsse. Sie strebt
zweitens, gleichwohl die Einzelerscheinungen, und zwar je
mehr und mehr in ihrer unverkürzten Individualität zu er-
fassen; d. h. sie will die verlangte Einheit des Prinzips nicht
etwa erschleichen durch irgendwelche Vergewaltigung oder be-
queme Vernachlässigung der vollen Konkretion der Erfahrung;
der gesunde Sinn des Empirismus, den der Idealismus, wie
wir sehen, vollinhaltlich in sich aufzunehmen vermag. Diese
beiden Forderungen, die leicht einander entgegengesetzt scheinen
können, sind aber vereinbar, wenn drittens die scheinbar
grenzenlose, daher unbestimmbare Mannigfaltigkeit der Er-
scheinungen einen stetigen Uebergang erkennen, oder
vielmehr sich a priori in solchem darstellen lässt, so dass
nirgends Lücken bleiben, sondern sich voraussehen lässt, dass
auch der erst vermisste Zusammenhang von einem Erschei-
nungsgebiet zum andern sich genauerer Forschung endlich
entdecken muss, zum mindesten in zulässiger Hypothese,
einhellig mit aller bekannten Gesetzlichkeit der Natur sich wird
konstruieren lassen. Es müsste lehreich sein, diese Prinzipien
an der Geschichte der Wissenschaften in strenger Durchfüh-
rung zu bewähren; dass sie sich aber bewähren, wird jeder,
der mit einem beliebigen Forschungsgebiet historisch vertraut
ist, ohne weiteres bejahen. Diese Prinzipien haben eine
innere Notwendigkeit, die sich dem Prüfenden sofort fühlbar
macht und mehr und mehr bestätigt. Ihre (hier nur anzu-
deutende) zwingende Ableitung aber — aus der Natur des Be-
wusstseins überhaupt als Einheit des Mannigfaltigen und
zwar durch Kontinuität, d. i. aus der Urfunktion des Den-
kens, wie sie sich ebenso in den Kategorien, vorzüglich deut-
lich in denen der Qualität ausspricht — giebt der Ueberzeu-
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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 169. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/185>, abgerufen am 12.12.2024.
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