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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899.

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auf induktivem Wege freilich niemals herauskommen könnte.
Unter dieser Betrachtung schlichtet sich aber der ganze öde
Streit um das Vorrecht des "materialen" oder "geistigen"
Faktors. Es giebt kein Materiales ausser den materialen Be-
dingungen des Bewusstseins, auf die andrerseits auch die
höchste, geistigste Form des Bewusstseins, nämlich die Idee,
sich zurückbeziehen muss, wenn sie nicht zum leeren Wort,
zur inhaltlosen Phrase herabsinken soll. Dieser Einsicht hat
die "materialistische Geschichtsauffassung" sogar erheblich vor-
gearbeitet; denn sie setzt doch einen durchgehenden gesetz-
lichen Zusammenhang von der untersten Grundlage bis zur
obersten Spitze des sozialen Lebens voraus; nur mit dem Irr-
tum, dass diese Gesetzlichkeit, die ganz und gar, bis in die
letzten materialen Verzweigungen hinein, Gesetzlichkeit des
Bewusstseins ist, vielmehr aus den Gesetzen der Materie sich
soll ableiten lassen. Der wesentliche Fehler des sozialwissen-
schaftlichen wie des naturwissenschaftlichen "Materialismus"
ist der Fehler oder vielmehr der gänzliche Mangel der Er-
kenntniskritik
; ein Mangel, der dem entgegengesetzten, spiri-
tualistischen Standpunkt übrigens nicht weniger zur Last fällt.
Wird dies Eine berichtigt, so ist dagegen die Behauptung eines
bis zu den letzten materialen Bedingungen zurück-
reichenden Gesetzeszusammenhanges
gerade im Sinne
derjenigen Philosophie, die in dem Einheitsgesetze des Be-
wusstseins die letztentscheidende Instanz alles theoretischen
wie praktischen Urteilens sieht; wogegen ein Spiritualismus,
der sich gegen die Würdigung des materialen Faktors hart-
näckig sträubt, in hoffnungsloser Unklarheit befangen und den
wahren Problemen gegenüber hilflos bleibt.

Lässt sich nun etwa eine einfache Formel finden für diesen
durchgehenden Gesetzeszusammenhang der sozialen, ja der
menschlichen Entwicklung, der Entwicklung des Menschentums
überhaupt? Ich glaube, dass es möglich ist, wenigstens ein
Prinzip aufzustellen, welches darum nicht weniger ein richtiges
Prinzip ist, weil es für sich allein, ohne fernere Prämissen, noch
keine genügende Antwort auf die konkreten Fragen des gegenwär-
tigen Stadiums der wirtschaftlich-rechtlichen Entwicklung giebt.


auf induktivem Wege freilich niemals herauskommen könnte.
Unter dieser Betrachtung schlichtet sich aber der ganze öde
Streit um das Vorrecht des „materialen“ oder „geistigen“
Faktors. Es giebt kein Materiales ausser den materialen Be-
dingungen des Bewusstseins, auf die andrerseits auch die
höchste, geistigste Form des Bewusstseins, nämlich die Idee,
sich zurückbeziehen muss, wenn sie nicht zum leeren Wort,
zur inhaltlosen Phrase herabsinken soll. Dieser Einsicht hat
die „materialistische Geschichtsauffassung“ sogar erheblich vor-
gearbeitet; denn sie setzt doch einen durchgehenden gesetz-
lichen Zusammenhang von der untersten Grundlage bis zur
obersten Spitze des sozialen Lebens voraus; nur mit dem Irr-
tum, dass diese Gesetzlichkeit, die ganz und gar, bis in die
letzten materialen Verzweigungen hinein, Gesetzlichkeit des
Bewusstseins ist, vielmehr aus den Gesetzen der Materie sich
soll ableiten lassen. Der wesentliche Fehler des sozialwissen-
schaftlichen wie des naturwissenschaftlichen „Materialismus“
ist der Fehler oder vielmehr der gänzliche Mangel der Er-
kenntniskritik
; ein Mangel, der dem entgegengesetzten, spiri-
tualistischen Standpunkt übrigens nicht weniger zur Last fällt.
Wird dies Eine berichtigt, so ist dagegen die Behauptung eines
bis zu den letzten materialen Bedingungen zurück-
reichenden Gesetzeszusammenhanges
gerade im Sinne
derjenigen Philosophie, die in dem Einheitsgesetze des Be-
wusstseins die letztentscheidende Instanz alles theoretischen
wie praktischen Urteilens sieht; wogegen ein Spiritualismus,
der sich gegen die Würdigung des materialen Faktors hart-
näckig sträubt, in hoffnungsloser Unklarheit befangen und den
wahren Problemen gegenüber hilflos bleibt.

Lässt sich nun etwa eine einfache Formel finden für diesen
durchgehenden Gesetzeszusammenhang der sozialen, ja der
menschlichen Entwicklung, der Entwicklung des Menschentums
überhaupt? Ich glaube, dass es möglich ist, wenigstens ein
Prinzip aufzustellen, welches darum nicht weniger ein richtiges
Prinzip ist, weil es für sich allein, ohne fernere Prämissen, noch
keine genügende Antwort auf die konkreten Fragen des gegenwär-
tigen Stadiums der wirtschaftlich-rechtlichen Entwicklung giebt.


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[167/0183] auf induktivem Wege freilich niemals herauskommen könnte. Unter dieser Betrachtung schlichtet sich aber der ganze öde Streit um das Vorrecht des „materialen“ oder „geistigen“ Faktors. Es giebt kein Materiales ausser den materialen Be- dingungen des Bewusstseins, auf die andrerseits auch die höchste, geistigste Form des Bewusstseins, nämlich die Idee, sich zurückbeziehen muss, wenn sie nicht zum leeren Wort, zur inhaltlosen Phrase herabsinken soll. Dieser Einsicht hat die „materialistische Geschichtsauffassung“ sogar erheblich vor- gearbeitet; denn sie setzt doch einen durchgehenden gesetz- lichen Zusammenhang von der untersten Grundlage bis zur obersten Spitze des sozialen Lebens voraus; nur mit dem Irr- tum, dass diese Gesetzlichkeit, die ganz und gar, bis in die letzten materialen Verzweigungen hinein, Gesetzlichkeit des Bewusstseins ist, vielmehr aus den Gesetzen der Materie sich soll ableiten lassen. Der wesentliche Fehler des sozialwissen- schaftlichen wie des naturwissenschaftlichen „Materialismus“ ist der Fehler oder vielmehr der gänzliche Mangel der Er- kenntniskritik; ein Mangel, der dem entgegengesetzten, spiri- tualistischen Standpunkt übrigens nicht weniger zur Last fällt. Wird dies Eine berichtigt, so ist dagegen die Behauptung eines bis zu den letzten materialen Bedingungen zurück- reichenden Gesetzeszusammenhanges gerade im Sinne derjenigen Philosophie, die in dem Einheitsgesetze des Be- wusstseins die letztentscheidende Instanz alles theoretischen wie praktischen Urteilens sieht; wogegen ein Spiritualismus, der sich gegen die Würdigung des materialen Faktors hart- näckig sträubt, in hoffnungsloser Unklarheit befangen und den wahren Problemen gegenüber hilflos bleibt. Lässt sich nun etwa eine einfache Formel finden für diesen durchgehenden Gesetzeszusammenhang der sozialen, ja der menschlichen Entwicklung, der Entwicklung des Menschentums überhaupt? Ich glaube, dass es möglich ist, wenigstens ein Prinzip aufzustellen, welches darum nicht weniger ein richtiges Prinzip ist, weil es für sich allein, ohne fernere Prämissen, noch keine genügende Antwort auf die konkreten Fragen des gegenwär- tigen Stadiums der wirtschaftlich-rechtlichen Entwicklung giebt.

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Zitationshilfe: Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 167. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/183>, abgerufen am 12.12.2024.