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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899.

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unter Bilden allgemein verstehen: von der Heteronomie zur
Autonomie führen, gleichviel ob sich selbst oder andre. Die
Erfahrung der Macht des Willens, unsre Arbeitskräfte auf be-
stimmte Zwecke zu lenken und damit unserem Thun Regel
und Einheit zu verschaffen, führt endlich zu der Einsicht, dass
auch die Zwecke uns nicht schlechthin zudiktiert sind, sondern
von uns selber gesetzt werden können. In jedem geregelten
Thun ordnet sich ein Zweck dem andern unter; so enthüllt
sich endlich, dass überhaupt kein empirischer Zweck sich je
anmaassen darf, souverän zu sein, vielmehr alle der Kritik einer
praktischen Beurteilung unterliegen, die keinen engeren Maass-
stab anlegen darf als den der absoluten Einheit der Zwecke.
Es entsteht also die neue Aufgabe einer Ordnung der Zwecke
selbst
, nicht bloss der verfügbaren Mittel zu gegebenen
Zwecken. Es ist nichts andres als die volle Herrschaft des
Bewusstseins
, was die praktische Erwägung zu dieser
höchsten Stufe erhebt. Sie immer neu zu erringen ist all-
gemein Aufgabe der bildenden Thätigkeit; sie der Gemeinschaft
zu gewinnen und in ihr zur letztentscheidenden Instanz zu
erheben, Aufgabe der sozialen Bildungsthätigkeit: der sozialen
Pädagogik
. Diese hat gewiss sowohl die wirtschaftliche als
die regierende Thätigkeit zur Voraussetzung und wirkt andrer-
seits auf beide und also auf das soziale Leben in allen Be-
ziehungen zurück. Allein sie geht in ihrem eigentümlichen
Zweck doch über beide hinaus; er ist ihr nicht vorgezeichnet
durch die Bedürfnisse der Wirtschaft oder der Regierung, so
berechtigte Ansprüche diese auch haben, von ihr gleichfalls
gemäss ihrer Eigenart berücksichtigt zu werden. Ja ihr Zweck
ist denen der Wirtschaft und des Rechts schlechthin über-
geordnet. Denn weder in der blossen Beschaffung verfügbarer
Kräfte noch in der sozialen Organisation bloss als solcher
kann der schliessliche Zweck des sozialen Lebens gefunden
werden; allzu deutlich tragen beide den Charakter blosser
Mittel. Man lebt nicht um zu leben, man regiert nicht und
lässt sich regieren, bloss um zu regieren oder regiert zu sein;
der schliessliche Zweck kann nur im Bewusstsein liegen,
denn es giebt keinen Zweck ausserhalb des Bewusstseins.

unter Bilden allgemein verstehen: von der Heteronomie zur
Autonomie führen, gleichviel ob sich selbst oder andre. Die
Erfahrung der Macht des Willens, unsre Arbeitskräfte auf be-
stimmte Zwecke zu lenken und damit unserem Thun Regel
und Einheit zu verschaffen, führt endlich zu der Einsicht, dass
auch die Zwecke uns nicht schlechthin zudiktiert sind, sondern
von uns selber gesetzt werden können. In jedem geregelten
Thun ordnet sich ein Zweck dem andern unter; so enthüllt
sich endlich, dass überhaupt kein empirischer Zweck sich je
anmaassen darf, souverän zu sein, vielmehr alle der Kritik einer
praktischen Beurteilung unterliegen, die keinen engeren Maass-
stab anlegen darf als den der absoluten Einheit der Zwecke.
Es entsteht also die neue Aufgabe einer Ordnung der Zwecke
selbst
, nicht bloss der verfügbaren Mittel zu gegebenen
Zwecken. Es ist nichts andres als die volle Herrschaft des
Bewusstseins
, was die praktische Erwägung zu dieser
höchsten Stufe erhebt. Sie immer neu zu erringen ist all-
gemein Aufgabe der bildenden Thätigkeit; sie der Gemeinschaft
zu gewinnen und in ihr zur letztentscheidenden Instanz zu
erheben, Aufgabe der sozialen Bildungsthätigkeit: der sozialen
Pädagogik
. Diese hat gewiss sowohl die wirtschaftliche als
die regierende Thätigkeit zur Voraussetzung und wirkt andrer-
seits auf beide und also auf das soziale Leben in allen Be-
ziehungen zurück. Allein sie geht in ihrem eigentümlichen
Zweck doch über beide hinaus; er ist ihr nicht vorgezeichnet
durch die Bedürfnisse der Wirtschaft oder der Regierung, so
berechtigte Ansprüche diese auch haben, von ihr gleichfalls
gemäss ihrer Eigenart berücksichtigt zu werden. Ja ihr Zweck
ist denen der Wirtschaft und des Rechts schlechthin über-
geordnet. Denn weder in der blossen Beschaffung verfügbarer
Kräfte noch in der sozialen Organisation bloss als solcher
kann der schliessliche Zweck des sozialen Lebens gefunden
werden; allzu deutlich tragen beide den Charakter blosser
Mittel. Man lebt nicht um zu leben, man regiert nicht und
lässt sich regieren, bloss um zu regieren oder regiert zu sein;
der schliessliche Zweck kann nur im Bewusstsein liegen,
denn es giebt keinen Zweck ausserhalb des Bewusstseins.

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[157/0173] unter Bilden allgemein verstehen: von der Heteronomie zur Autonomie führen, gleichviel ob sich selbst oder andre. Die Erfahrung der Macht des Willens, unsre Arbeitskräfte auf be- stimmte Zwecke zu lenken und damit unserem Thun Regel und Einheit zu verschaffen, führt endlich zu der Einsicht, dass auch die Zwecke uns nicht schlechthin zudiktiert sind, sondern von uns selber gesetzt werden können. In jedem geregelten Thun ordnet sich ein Zweck dem andern unter; so enthüllt sich endlich, dass überhaupt kein empirischer Zweck sich je anmaassen darf, souverän zu sein, vielmehr alle der Kritik einer praktischen Beurteilung unterliegen, die keinen engeren Maass- stab anlegen darf als den der absoluten Einheit der Zwecke. Es entsteht also die neue Aufgabe einer Ordnung der Zwecke selbst, nicht bloss der verfügbaren Mittel zu gegebenen Zwecken. Es ist nichts andres als die volle Herrschaft des Bewusstseins, was die praktische Erwägung zu dieser höchsten Stufe erhebt. Sie immer neu zu erringen ist all- gemein Aufgabe der bildenden Thätigkeit; sie der Gemeinschaft zu gewinnen und in ihr zur letztentscheidenden Instanz zu erheben, Aufgabe der sozialen Bildungsthätigkeit: der sozialen Pädagogik. Diese hat gewiss sowohl die wirtschaftliche als die regierende Thätigkeit zur Voraussetzung und wirkt andrer- seits auf beide und also auf das soziale Leben in allen Be- ziehungen zurück. Allein sie geht in ihrem eigentümlichen Zweck doch über beide hinaus; er ist ihr nicht vorgezeichnet durch die Bedürfnisse der Wirtschaft oder der Regierung, so berechtigte Ansprüche diese auch haben, von ihr gleichfalls gemäss ihrer Eigenart berücksichtigt zu werden. Ja ihr Zweck ist denen der Wirtschaft und des Rechts schlechthin über- geordnet. Denn weder in der blossen Beschaffung verfügbarer Kräfte noch in der sozialen Organisation bloss als solcher kann der schliessliche Zweck des sozialen Lebens gefunden werden; allzu deutlich tragen beide den Charakter blosser Mittel. Man lebt nicht um zu leben, man regiert nicht und lässt sich regieren, bloss um zu regieren oder regiert zu sein; der schliessliche Zweck kann nur im Bewusstsein liegen, denn es giebt keinen Zweck ausserhalb des Bewusstseins.

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Zitationshilfe: Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 157. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/173>, abgerufen am 30.11.2024.