Verhalten ausserhalb sittlicher Rücksicht bestimmen dürfen. In der Leidenschaft des Rassen- und Nationalhasses, nicht minder des Klassenhasses ist gerade dies das Gefährliche, die wie systematische Untergrabung jedes Gerechtigkeits- sinnes und damit jeder Möglichkeit sittlicher Gemeinschaft.
So genau hängt die Tugend der Gerechtigkeit mit der Klarheit der sittlichen Einsicht, also mit der Tugend der Wahrheit zusammen. Dass sie nicht minder die Energie des sittlichen Willens d. i. Tapferkeit fordert, folgt schon aus dem eben Gesagten, nämlich dass sich die Idee des sittlich Rechten nur in fortwährendem Kampf mit der Gewalt natürlicher Strebungen und Gegenstrebungen, Sympathieen und Anti- pathieen zu behaupten vermag. Sympathie und Antipathie ist nicht Sache des Willens; ich fühle sie oder fühle sie nicht und kann nichts dafür oder dawider. Aber Gerechtigkeit un- verletzt zu behaupten auch gegen die unwillkürlichen Sym- pathieen und Antipathieen ist in den Willen des Menschen ge- stellt. Aus der Unwillkürlichkeit und angeblichen Unwider- stehlichkeit triebartiger Strebungen und Gegenstrebungen einen Rechtsgrund und gar einen sittlichen Grund des Verhaltens gegen den Andern machen zu wollen, bedeutet nicht bloss die Preisgebung der ersten Grundlage des sittlichen Urteilens, es bedeutet nicht minder die Gefangengebung des Willens an die Obmacht des blinden Triebs, den Verlust der sittlichen Frei- heit, des hohen Vorrechtes sich selber Gesetz sein zu dürfen. Das gilt in Bezug auf den Einzelnen, es gilt in verstärktem Maasse gegenüber gesellschaftlich mächtigen Sympathieen und Antipathieen, gegen die die Sache der Gerechtigkeit zu be- haupten eine um so gestähltere Energie des sittlichen Wollens erfordert, je mehr das gesellschaftlich Mächtige die Tendenz hat, sich geradezu an die Stelle des Sittlichen zu setzen und für die wahre, konkrete Sittlichkeit auszugeben.
Und wieder aus dem gleichen Zusammenhang der Begriffe versteht sich das Verhältnis der Gerechtigkeit zu unserer dritten Tugend. Sympathie und Antipathie gehört unverkenn- bar zum Gebiete des Trieblebens; also, nach den Anschauungen aller bis zur Höhe sittlicher Reflexion entwickelten Völker,
Verhalten ausserhalb sittlicher Rücksicht bestimmen dürfen. In der Leidenschaft des Rassen- und Nationalhasses, nicht minder des Klassenhasses ist gerade dies das Gefährliche, die wie systematische Untergrabung jedes Gerechtigkeits- sinnes und damit jeder Möglichkeit sittlicher Gemeinschaft.
So genau hängt die Tugend der Gerechtigkeit mit der Klarheit der sittlichen Einsicht, also mit der Tugend der Wahrheit zusammen. Dass sie nicht minder die Energie des sittlichen Willens d. i. Tapferkeit fordert, folgt schon aus dem eben Gesagten, nämlich dass sich die Idee des sittlich Rechten nur in fortwährendem Kampf mit der Gewalt natürlicher Strebungen und Gegenstrebungen, Sympathieen und Anti- pathieen zu behaupten vermag. Sympathie und Antipathie ist nicht Sache des Willens; ich fühle sie oder fühle sie nicht und kann nichts dafür oder dawider. Aber Gerechtigkeit un- verletzt zu behaupten auch gegen die unwillkürlichen Sym- pathieen und Antipathieen ist in den Willen des Menschen ge- stellt. Aus der Unwillkürlichkeit und angeblichen Unwider- stehlichkeit triebartiger Strebungen und Gegenstrebungen einen Rechtsgrund und gar einen sittlichen Grund des Verhaltens gegen den Andern machen zu wollen, bedeutet nicht bloss die Preisgebung der ersten Grundlage des sittlichen Urteilens, es bedeutet nicht minder die Gefangengebung des Willens an die Obmacht des blinden Triebs, den Verlust der sittlichen Frei- heit, des hohen Vorrechtes sich selber Gesetz sein zu dürfen. Das gilt in Bezug auf den Einzelnen, es gilt in verstärktem Maasse gegenüber gesellschaftlich mächtigen Sympathieen und Antipathieen, gegen die die Sache der Gerechtigkeit zu be- haupten eine um so gestähltere Energie des sittlichen Wollens erfordert, je mehr das gesellschaftlich Mächtige die Tendenz hat, sich geradezu an die Stelle des Sittlichen zu setzen und für die wahre, konkrete Sittlichkeit auszugeben.
Und wieder aus dem gleichen Zusammenhang der Begriffe versteht sich das Verhältnis der Gerechtigkeit zu unserer dritten Tugend. Sympathie und Antipathie gehört unverkenn- bar zum Gebiete des Trieblebens; also, nach den Anschauungen aller bis zur Höhe sittlicher Reflexion entwickelten Völker,
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Verhalten ausserhalb sittlicher Rücksicht bestimmen dürfen.
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minder des Klassenhasses ist gerade dies das Gefährliche,
die wie systematische Untergrabung jedes Gerechtigkeits-
sinnes und damit jeder Möglichkeit sittlicher Gemeinschaft.
So genau hängt die Tugend der Gerechtigkeit mit der
Klarheit der sittlichen Einsicht, also mit der Tugend der
Wahrheit zusammen. Dass sie nicht minder die Energie des
sittlichen Willens d. i. Tapferkeit fordert, folgt schon aus dem
eben Gesagten, nämlich dass sich die Idee des sittlich Rechten
nur in fortwährendem Kampf mit der Gewalt natürlicher
Strebungen und Gegenstrebungen, Sympathieen und Anti-
pathieen zu behaupten vermag. Sympathie und Antipathie ist
nicht Sache des Willens; ich fühle sie oder fühle sie nicht
und kann nichts dafür oder dawider. Aber Gerechtigkeit un-
verletzt zu behaupten auch gegen die unwillkürlichen Sym-
pathieen und Antipathieen ist in den Willen des Menschen ge-
stellt. Aus der Unwillkürlichkeit und angeblichen Unwider-
stehlichkeit triebartiger Strebungen und Gegenstrebungen einen
Rechtsgrund und gar einen sittlichen Grund des Verhaltens
gegen den Andern machen zu wollen, bedeutet nicht bloss die
Preisgebung der ersten Grundlage des sittlichen Urteilens, es
bedeutet nicht minder die Gefangengebung des Willens an die
Obmacht des blinden Triebs, den Verlust der sittlichen Frei-
heit, des hohen Vorrechtes sich selber Gesetz sein zu dürfen.
Das gilt in Bezug auf den Einzelnen, es gilt in verstärktem
Maasse gegenüber gesellschaftlich mächtigen Sympathieen und
Antipathieen, gegen die die Sache der Gerechtigkeit zu be-
haupten eine um so gestähltere Energie des sittlichen Wollens
erfordert, je mehr das gesellschaftlich Mächtige die Tendenz
hat, sich geradezu an die Stelle des Sittlichen zu setzen und
für die wahre, konkrete Sittlichkeit auszugeben.
Und wieder aus dem gleichen Zusammenhang der Begriffe
versteht sich das Verhältnis der Gerechtigkeit zu unserer
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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 126. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/142>, abgerufen am 26.11.2024.
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