neue Kraft zieht. Aber nicht minder helfen sich in verhäng- nisvollem Bunde alle Untugenden: Lüge und sittliche Schwäche der Unordnung des Trieblebens und umgekehrt. Der wilde, regellose Trieb ist der gefährlichste Sophist und erbärmlichste Schwächling; um so sophistischer und erbärmlicher, je mehr er sich in das Gewand der rechten Wahrheit und rechten Forschheit zu kleiden liebt.
In dieser Tugend vollendet sich, wie es scheint, die Sitt- lichkeit des Individuums zur konkretesten Gestalt, deren sie fähig ist. Allein die bloss individuelle Sittlichkeit ist über- haupt nur Abstraktion. Der Einzelne lebt nun einmal nicht vereinzelt, sondern jederzeit in Gemeinschaftsbeziehungen; es ist also eine blosse Fiktion, vom Individuum wie von einem Ding für sich zu reden. Andrerseits wurzeln die Gemeinschafts- beziehungen doch in den Individuen selbst; sie existieren über- haupt nur im Bewusstsein der Einzelnen. Soll es also eine Tugend der Gemeinschaft geben, so muss sie, da doch Tugend Sittlichkeit heisst und Sittlichkeit in Individuen allein Leben und Ursprung hat, auch in ihnen, also in Gestalt einer indi- viduellen Tugend sich ausprägen. Es ist nun schon bei der Behandlung der drei im engeren Sinne individualen Tu- genden fortwährend auch die Beziehung auf die Gemeinschaft berücksichtigt worden. Doch ist es zum wenigsten noch eine eigene und wichtige Seite an aller individuellen Tugend, dass sie das Bewusstsein der Beziehung auf die sittliche Gemein- schaft wesentlich einschliesst. Auch genügt es nicht, bei jeder jener drei Tugenden neben der individuellen die soziale Seite hervorzuheben, sondern man hat Grund, die soziale Tugend des Individuums auch als ein eigentümliches Ganze ins Auge zu fassen.
Deswegen stellen wir als vierte individuelle Tugend eben die soziale Tugend, sofern sie Tugend des Individuums ist, auf. Wir bezeichnen sie, wiederum im Anschluss an die Alten und besonders an Plato, mit dem Namen der Gerechtigkeit.
In der Anordnung unsrer vier Tugenden aber wird man die zwingende Notwendigkeit nicht verkennen, mit der die Betrachtung von den abstrakteren zu immer konkrete-
neue Kraft zieht. Aber nicht minder helfen sich in verhäng- nisvollem Bunde alle Untugenden: Lüge und sittliche Schwäche der Unordnung des Trieblebens und umgekehrt. Der wilde, regellose Trieb ist der gefährlichste Sophist und erbärmlichste Schwächling; um so sophistischer und erbärmlicher, je mehr er sich in das Gewand der rechten Wahrheit und rechten Forschheit zu kleiden liebt.
In dieser Tugend vollendet sich, wie es scheint, die Sitt- lichkeit des Individuums zur konkretesten Gestalt, deren sie fähig ist. Allein die bloss individuelle Sittlichkeit ist über- haupt nur Abstraktion. Der Einzelne lebt nun einmal nicht vereinzelt, sondern jederzeit in Gemeinschaftsbeziehungen; es ist also eine blosse Fiktion, vom Individuum wie von einem Ding für sich zu reden. Andrerseits wurzeln die Gemeinschafts- beziehungen doch in den Individuen selbst; sie existieren über- haupt nur im Bewusstsein der Einzelnen. Soll es also eine Tugend der Gemeinschaft geben, so muss sie, da doch Tugend Sittlichkeit heisst und Sittlichkeit in Individuen allein Leben und Ursprung hat, auch in ihnen, also in Gestalt einer indi- viduellen Tugend sich ausprägen. Es ist nun schon bei der Behandlung der drei im engeren Sinne individualen Tu- genden fortwährend auch die Beziehung auf die Gemeinschaft berücksichtigt worden. Doch ist es zum wenigsten noch eine eigene und wichtige Seite an aller individuellen Tugend, dass sie das Bewusstsein der Beziehung auf die sittliche Gemein- schaft wesentlich einschliesst. Auch genügt es nicht, bei jeder jener drei Tugenden neben der individuellen die soziale Seite hervorzuheben, sondern man hat Grund, die soziale Tugend des Individuums auch als ein eigentümliches Ganze ins Auge zu fassen.
Deswegen stellen wir als vierte individuelle Tugend eben die soziale Tugend, sofern sie Tugend des Individuums ist, auf. Wir bezeichnen sie, wiederum im Anschluss an die Alten und besonders an Plato, mit dem Namen der Gerechtigkeit.
In der Anordnung unsrer vier Tugenden aber wird man die zwingende Notwendigkeit nicht verkennen, mit der die Betrachtung von den abstrakteren zu immer konkrete-
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neue Kraft zieht. Aber nicht minder helfen sich in verhäng-
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regellose Trieb ist der gefährlichste Sophist und erbärmlichste
Schwächling; um so sophistischer und erbärmlicher, je mehr
er sich in das Gewand der rechten Wahrheit und rechten
Forschheit zu kleiden liebt.
In dieser Tugend vollendet sich, wie es scheint, die Sitt-
lichkeit des Individuums zur konkretesten Gestalt, deren sie
fähig ist. Allein die bloss individuelle Sittlichkeit ist über-
haupt nur Abstraktion. Der Einzelne lebt nun einmal nicht
vereinzelt, sondern jederzeit in Gemeinschaftsbeziehungen; es
ist also eine blosse Fiktion, vom Individuum wie von einem
Ding für sich zu reden. Andrerseits wurzeln die Gemeinschafts-
beziehungen doch in den Individuen selbst; sie existieren über-
haupt nur im Bewusstsein der Einzelnen. Soll es also eine
Tugend der Gemeinschaft geben, so muss sie, da doch Tugend
Sittlichkeit heisst und Sittlichkeit in Individuen allein Leben
und Ursprung hat, auch in ihnen, also in Gestalt einer indi-
viduellen Tugend sich ausprägen. Es ist nun schon bei
der Behandlung der drei im engeren Sinne individualen Tu-
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berücksichtigt worden. Doch ist es zum wenigsten noch eine
eigene und wichtige Seite an aller individuellen Tugend, dass
sie das Bewusstsein der Beziehung auf die sittliche Gemein-
schaft wesentlich einschliesst. Auch genügt es nicht, bei jeder
jener drei Tugenden neben der individuellen die soziale Seite
hervorzuheben, sondern man hat Grund, die soziale Tugend
des Individuums auch als ein eigentümliches Ganze
ins Auge zu fassen.
Deswegen stellen wir als vierte individuelle Tugend eben
die soziale Tugend, sofern sie Tugend des Individuums ist,
auf. Wir bezeichnen sie, wiederum im Anschluss an die Alten
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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 118. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/134>, abgerufen am 26.11.2024.
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