Schon dadurch ist für den Gebrauch des Triebes eine uner- bittliche Grenze gezogen, die Grenze, die die Unkeuschheit besonders nicht anerkennen mag; sie zieht vielmehr haupt- sächlich daraus ihre Nahrung, dass sie den Trieb gebrauchen, aber seinen Zweck, die Fortpflanzung, umgehen will, weil seine Anerkennung dem Gebrauch des Triebes offenbar Schranken auferlegt. Es ist hier, wie bei der Trunksucht, der Habsucht u. s. f. auffällig (was man Kant nicht hat glauben wollen), dass alle Unsittlichkeit auf einen Selbstwiderspruch des Willens hinauskommt. Dann aber und vornehmlich kommt im Geschlechtsverhältnis die seelische Beziehung in Frage, und da erst recht zeigt sich der hohe, ganz positive Sinn der Herzensreinheit in der Tugend der Keuschheit. Es ist die Reinheit, der das Reine rein ist, indem es bezogen wird auf das Heiligtum der Seele; der das physische Leben, und so auch seine Weitergabe, geheiligt ist durch seine Beziehung auf das seelische Leben, dem es dient; für die daher die Höhe des physischen Lebens -- die Höhe, da es sich verewigt, in- dem es sich verschenkt -- zugleich zu einer Höhe des seelischen Lebens zu werden vermag. Und das um so mehr, als zugleich das Verhältnis von Seele zu Seele in solcher Gesinnung sich zur ganzen Wahrheit reinigt: der Eine traut dem Andern eine Seele zu, erkennt in ihm wie in sich selber die sittliche und nicht bloss die sinnliche Person, und diese als unverletzliches Heiligtum an, um auf dies Heiligste, wie sein ganzes Sein und Leben, so auch alles, was er gegen uns ist und thut, uns giebt oder von uns empfängt, zuletzt zurückzubeziehen. Das ist freilich sinnlos, wenn man das Ziel des Naturtriebs im Genuss des Augenblicks sieht; aber es erhält klaren Sinn, wenn man sich besinnt, dass es dem Menschen verliehen ist, "dem Augenblick Dauer zu verleihen", ja in eine Ewigkeit hinauszublicken. Diese stellt sich ihm menschlich und irdisch dar in der Folge der Geschlechter, wodurch der Einzelne sein beschränktes Dasein an das Leben der ganzen Menschheit kettet. Die Ueberlieferung des Menschentums von Geschlecht zu Geschlecht ist demnach das wahre, sittliche Ziel der Fort- pflanzung. So hat selbst Plato, der sonst einigermaassen zur
Schon dadurch ist für den Gebrauch des Triebes eine uner- bittliche Grenze gezogen, die Grenze, die die Unkeuschheit besonders nicht anerkennen mag; sie zieht vielmehr haupt- sächlich daraus ihre Nahrung, dass sie den Trieb gebrauchen, aber seinen Zweck, die Fortpflanzung, umgehen will, weil seine Anerkennung dem Gebrauch des Triebes offenbar Schranken auferlegt. Es ist hier, wie bei der Trunksucht, der Habsucht u. s. f. auffällig (was man Kant nicht hat glauben wollen), dass alle Unsittlichkeit auf einen Selbstwiderspruch des Willens hinauskommt. Dann aber und vornehmlich kommt im Geschlechtsverhältnis die seelische Beziehung in Frage, und da erst recht zeigt sich der hohe, ganz positive Sinn der Herzensreinheit in der Tugend der Keuschheit. Es ist die Reinheit, der das Reine rein ist, indem es bezogen wird auf das Heiligtum der Seele; der das physische Leben, und so auch seine Weitergabe, geheiligt ist durch seine Beziehung auf das seelische Leben, dem es dient; für die daher die Höhe des physischen Lebens — die Höhe, da es sich verewigt, in- dem es sich verschenkt — zugleich zu einer Höhe des seelischen Lebens zu werden vermag. Und das um so mehr, als zugleich das Verhältnis von Seele zu Seele in solcher Gesinnung sich zur ganzen Wahrheit reinigt: der Eine traut dem Andern eine Seele zu, erkennt in ihm wie in sich selber die sittliche und nicht bloss die sinnliche Person, und diese als unverletzliches Heiligtum an, um auf dies Heiligste, wie sein ganzes Sein und Leben, so auch alles, was er gegen uns ist und thut, uns giebt oder von uns empfängt, zuletzt zurückzubeziehen. Das ist freilich sinnlos, wenn man das Ziel des Naturtriebs im Genuss des Augenblicks sieht; aber es erhält klaren Sinn, wenn man sich besinnt, dass es dem Menschen verliehen ist, „dem Augenblick Dauer zu verleihen“, ja in eine Ewigkeit hinauszublicken. Diese stellt sich ihm menschlich und irdisch dar in der Folge der Geschlechter, wodurch der Einzelne sein beschränktes Dasein an das Leben der ganzen Menschheit kettet. Die Ueberlieferung des Menschentums von Geschlecht zu Geschlecht ist demnach das wahre, sittliche Ziel der Fort- pflanzung. So hat selbst Plato, der sonst einigermaassen zur
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Schon dadurch ist für den Gebrauch des Triebes eine uner-
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besonders nicht anerkennen mag; sie zieht vielmehr haupt-
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aber seinen Zweck, die Fortpflanzung, umgehen will, weil seine
Anerkennung dem Gebrauch des Triebes offenbar Schranken
auferlegt. Es ist hier, wie bei der Trunksucht, der Habsucht
u. s. f. auffällig (was man Kant nicht hat glauben wollen),
dass alle Unsittlichkeit auf einen Selbstwiderspruch des
Willens hinauskommt. Dann aber und vornehmlich kommt
im Geschlechtsverhältnis die seelische Beziehung in Frage, und
da erst recht zeigt sich der hohe, ganz positive Sinn der
Herzensreinheit in der Tugend der Keuschheit. Es ist die
Reinheit, der das Reine rein ist, indem es bezogen wird auf
das Heiligtum der Seele; der das physische Leben, und so
auch seine Weitergabe, geheiligt ist durch seine Beziehung auf
das seelische Leben, dem es dient; für die daher die Höhe
des physischen Lebens — die Höhe, da es sich verewigt, in-
dem es sich verschenkt — zugleich zu einer Höhe des seelischen
Lebens zu werden vermag. Und das um so mehr, als zugleich
das Verhältnis von Seele zu Seele in solcher Gesinnung sich
zur ganzen Wahrheit reinigt: der Eine traut dem Andern eine
Seele zu, erkennt in ihm wie in sich selber die sittliche und
nicht bloss die sinnliche Person, und diese als unverletzliches
Heiligtum an, um auf dies Heiligste, wie sein ganzes Sein
und Leben, so auch alles, was er gegen uns ist und thut, uns
giebt oder von uns empfängt, zuletzt zurückzubeziehen. Das
ist freilich sinnlos, wenn man das Ziel des Naturtriebs im
Genuss des Augenblicks sieht; aber es erhält klaren Sinn,
wenn man sich besinnt, dass es dem Menschen verliehen ist,
„dem Augenblick Dauer zu verleihen“, ja in eine Ewigkeit
hinauszublicken. Diese stellt sich ihm menschlich und irdisch
dar in der Folge der Geschlechter, wodurch der Einzelne sein
beschränktes Dasein an das Leben der ganzen Menschheit
kettet. Die Ueberlieferung des Menschentums von Geschlecht
zu Geschlecht ist demnach das wahre, sittliche Ziel der Fort-
pflanzung. So hat selbst Plato, der sonst einigermaassen zur
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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 114. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/130>, abgerufen am 25.11.2024.
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