schung der Triebe unerlässlich. Aber es ist die Weise schlechter Herrscher, die Unterthanen möglichst schwach zu wollen, da- mit sie sich desto leichter regieren lassen. Man übersieht, dass die Herrschaft über kleine und schwache Triebe auch kleine und schwache Herrschaft ist. Die Gewalt über den Trieb ist erst die negative Vorbedingung, nicht das Ganze und Positive dieser Tugend; das Positive ist vielmehr: Ge- brauch des Triebes nach seiner wirklichen, natürlichen und sittlichen Bestimmung, nicht ausserhalb dieser Bestimmung.
Man hat sich das Verständnis dieser Tugend am meisten dadurch erschwert, dass man fast ausschliesslich an die gröbsten, auf das bloss physische Dasein bezüglichen Triebe gedacht hat, an den Ernährungs- und Fortpflanzungstrieb, und etwa noch an die abgeleiteteren, aber zuletzt auch lediglich auf Selbst- behauptung im Kampf ums Dasein gerichteten Triebe der "Habsucht, Ehrsucht, Herrschsucht". Nun liegt allen diesen doch auch etwas Gesundes zu Grunde. Weshalb läge auf Verschwendung und Schädigung des physischen Lebens und der Mittel und Bedingnisse der Lebenserhaltung ein schwerer sittlicher Tadel, wenn nicht das Leben selbst und was seiner Erhaltung dient, an sich etwas Fördernswertes wäre? Weshalb ist uns das Verhältnis von Mutter und Kind rein und ehrwürdig, weshalb konnte der Vatername sogar heilig genug erachtet werden, um der Gottheit beigelegt zu werden, wenn Vater- und Mutterschaft an sich unrein wäre? Und so ist doch auch nicht aller Besitz, alle äussere Ehre, alle Macht und Herrschaft über Dinge und auch über mensch- liche Arbeitskräfte an sich verwerflich. Verfügbare Energie des Triebs ist zu aller und jeder menschlichen Thätigkeit, sie ist vor allem auch zur Arbeit an der eigenen geistigen und sittlichen Entwicklung erforderlich; wie sollte es also nicht auch sittlich gefordert sein, sie zu erhalten und zu stärken?
Am ärgsten ist wohl die Verwirrung über einen Begriff, der ganz besonders hierher gehört, nämlich den der Keusch- heit. Man denkt dabei entweder bloss an das gesellschaftlich Anständige oder wozu einer sich ungescheut bekennen darf; wo denn wohl der bekannte Unterschied zwischen keuschen
schung der Triebe unerlässlich. Aber es ist die Weise schlechter Herrscher, die Unterthanen möglichst schwach zu wollen, da- mit sie sich desto leichter regieren lassen. Man übersieht, dass die Herrschaft über kleine und schwache Triebe auch kleine und schwache Herrschaft ist. Die Gewalt über den Trieb ist erst die negative Vorbedingung, nicht das Ganze und Positive dieser Tugend; das Positive ist vielmehr: Ge- brauch des Triebes nach seiner wirklichen, natürlichen und sittlichen Bestimmung, nicht ausserhalb dieser Bestimmung.
Man hat sich das Verständnis dieser Tugend am meisten dadurch erschwert, dass man fast ausschliesslich an die gröbsten, auf das bloss physische Dasein bezüglichen Triebe gedacht hat, an den Ernährungs- und Fortpflanzungstrieb, und etwa noch an die abgeleiteteren, aber zuletzt auch lediglich auf Selbst- behauptung im Kampf ums Dasein gerichteten Triebe der „Habsucht, Ehrsucht, Herrschsucht“. Nun liegt allen diesen doch auch etwas Gesundes zu Grunde. Weshalb läge auf Verschwendung und Schädigung des physischen Lebens und der Mittel und Bedingnisse der Lebenserhaltung ein schwerer sittlicher Tadel, wenn nicht das Leben selbst und was seiner Erhaltung dient, an sich etwas Fördernswertes wäre? Weshalb ist uns das Verhältnis von Mutter und Kind rein und ehrwürdig, weshalb konnte der Vatername sogar heilig genug erachtet werden, um der Gottheit beigelegt zu werden, wenn Vater- und Mutterschaft an sich unrein wäre? Und so ist doch auch nicht aller Besitz, alle äussere Ehre, alle Macht und Herrschaft über Dinge und auch über mensch- liche Arbeitskräfte an sich verwerflich. Verfügbare Energie des Triebs ist zu aller und jeder menschlichen Thätigkeit, sie ist vor allem auch zur Arbeit an der eigenen geistigen und sittlichen Entwicklung erforderlich; wie sollte es also nicht auch sittlich gefordert sein, sie zu erhalten und zu stärken?
Am ärgsten ist wohl die Verwirrung über einen Begriff, der ganz besonders hierher gehört, nämlich den der Keusch- heit. Man denkt dabei entweder bloss an das gesellschaftlich Anständige oder wozu einer sich ungescheut bekennen darf; wo denn wohl der bekannte Unterschied zwischen keuschen
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schung der Triebe unerlässlich. Aber es ist die Weise schlechter
Herrscher, die Unterthanen möglichst schwach zu wollen, da-
mit sie sich desto leichter regieren lassen. Man übersieht,
dass die Herrschaft über kleine und schwache Triebe auch
kleine und schwache Herrschaft ist. Die Gewalt über den
Trieb ist erst die negative Vorbedingung, nicht das Ganze
und Positive dieser Tugend; das Positive ist vielmehr: Ge-
brauch des Triebes nach seiner wirklichen, natürlichen und
sittlichen Bestimmung, nicht ausserhalb dieser Bestimmung.
Man hat sich das Verständnis dieser Tugend am meisten
dadurch erschwert, dass man fast ausschliesslich an die gröbsten,
auf das bloss physische Dasein bezüglichen Triebe gedacht hat,
an den Ernährungs- und Fortpflanzungstrieb, und etwa noch
an die abgeleiteteren, aber zuletzt auch lediglich auf Selbst-
behauptung im Kampf ums Dasein gerichteten Triebe der
„Habsucht, Ehrsucht, Herrschsucht“. Nun liegt allen diesen
doch auch etwas Gesundes zu Grunde. Weshalb läge auf
Verschwendung und Schädigung des physischen Lebens und
der Mittel und Bedingnisse der Lebenserhaltung ein schwerer
sittlicher Tadel, wenn nicht das Leben selbst und was seiner
Erhaltung dient, an sich etwas Fördernswertes wäre?
Weshalb ist uns das Verhältnis von Mutter und Kind
rein und ehrwürdig, weshalb konnte der Vatername sogar
heilig genug erachtet werden, um der Gottheit beigelegt zu
werden, wenn Vater- und Mutterschaft an sich unrein wäre?
Und so ist doch auch nicht aller Besitz, alle äussere Ehre,
alle Macht und Herrschaft über Dinge und auch über mensch-
liche Arbeitskräfte an sich verwerflich. Verfügbare Energie
des Triebs ist zu aller und jeder menschlichen Thätigkeit, sie
ist vor allem auch zur Arbeit an der eigenen geistigen und
sittlichen Entwicklung erforderlich; wie sollte es also nicht
auch sittlich gefordert sein, sie zu erhalten und zu stärken?
Am ärgsten ist wohl die Verwirrung über einen Begriff,
der ganz besonders hierher gehört, nämlich den der Keusch-
heit. Man denkt dabei entweder bloss an das gesellschaftlich
Anständige oder wozu einer sich ungescheut bekennen darf;
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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 112. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/128>, abgerufen am 25.11.2024.
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