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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899.

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bewährt, Standhaftigkeit, die aus dem Sinn der Wahrheit
fliesst.

Die Analogie führt aber darauf hin, neben den Tugenden
der Vernunft und des Willens noch eine solche anzu-
nehmen, die sich unmittelbar auf den dritten Faktor der Akti-
vität, das Triebleben bezieht. Auch das klassische System
der Kardinaltugenden, dessen tiefe Anlage sich bis dahin be-
währte, weist eine solche auf: die Tugend des Maasses,
sophrosune.

§ 14.
3. Die Tugend des Trieblebens: Reinheit oder Maass.

Es ist ein empfindlicher Mangel unsrer ethischen Kunst-
sprache, dass ihr ein Wort fehlt, das dem griechischen sophrosune
recht entspräche. Die seit Schleiermacher gebräuchliche Ueber-
setzung "Besonnenheit" trifft nur eine, bei Plato vorzüglich
wichtige Seite dieser Tugend, aber unterscheidet sie kaum von
der phronesis, die wir mit "Besinnung" wiedergaben. Im griechi-
schen ist das Unterscheidende im ersten Bestandteil des Worts,
welcher "heil, gesund" heisst, wenigstens angedeutet; bestimmter
giebt es sich kund in dem synonymen Wort kosmion. Das be-
sagt nicht nur das äusserlich Anständige; der Grundbegriff ist
vielmehr der der innern Wohlordnung, der geregelten, harmo-
nischen Verfassung der Seele; den Gegensatz bildet die Maass-
und Gesetzlosigkeit der Triebe, ubris. Auf denselben Begriff
führt die oft gebrauchte, im Wort sophrosune anklingende Ver-
gleichung mit der leiblichen Gesundheit. Den Punkt der Ver-
gleichung bildet das normale Verhältnis der Funktionen, in
dem sie sich gegenseitig nicht stören, sondern unterstützen
oder wenigstens streitlos mit einander bestehen. Das setzt
voraus, dass jede für sich das rechte Maass innehält. Und
so wird diese Tugend auch geradezu als die des Maasses, des
metrion bezeichnet. Das führt dann wieder hinüber zu der
Vergleichung mit dem ästhetisch Schönen, "Symmetrischen",
besonders aber mit dem Musikalischen, der Harmonie in eigent-
licher Bedeutung oder Symphonie, oder auch der Eurhythmie.

bewährt, Standhaftigkeit, die aus dem Sinn der Wahrheit
fliesst.

Die Analogie führt aber darauf hin, neben den Tugenden
der Vernunft und des Willens noch eine solche anzu-
nehmen, die sich unmittelbar auf den dritten Faktor der Akti-
vität, das Triebleben bezieht. Auch das klassische System
der Kardinaltugenden, dessen tiefe Anlage sich bis dahin be-
währte, weist eine solche auf: die Tugend des Maasses,
σωφϱοσύνη.

§ 14.
3. Die Tugend des Trieblebens: Reinheit oder Maass.

Es ist ein empfindlicher Mangel unsrer ethischen Kunst-
sprache, dass ihr ein Wort fehlt, das dem griechischen σωφϱοσύνη
recht entspräche. Die seit Schleiermacher gebräuchliche Ueber-
setzung „Besonnenheit“ trifft nur eine, bei Plato vorzüglich
wichtige Seite dieser Tugend, aber unterscheidet sie kaum von
der φϱόνησις, die wir mit „Besinnung“ wiedergaben. Im griechi-
schen ist das Unterscheidende im ersten Bestandteil des Worts,
welcher „heil, gesund“ heisst, wenigstens angedeutet; bestimmter
giebt es sich kund in dem synonymen Wort κόσμιον. Das be-
sagt nicht nur das äusserlich Anständige; der Grundbegriff ist
vielmehr der der innern Wohlordnung, der geregelten, harmo-
nischen Verfassung der Seele; den Gegensatz bildet die Maass-
und Gesetzlosigkeit der Triebe, ὕβϱις. Auf denselben Begriff
führt die oft gebrauchte, im Wort σωφϱοσύνη anklingende Ver-
gleichung mit der leiblichen Gesundheit. Den Punkt der Ver-
gleichung bildet das normale Verhältnis der Funktionen, in
dem sie sich gegenseitig nicht stören, sondern unterstützen
oder wenigstens streitlos mit einander bestehen. Das setzt
voraus, dass jede für sich das rechte Maass innehält. Und
so wird diese Tugend auch geradezu als die des Maasses, des
μέτϱιον bezeichnet. Das führt dann wieder hinüber zu der
Vergleichung mit dem ästhetisch Schönen, „Symmetrischen“,
besonders aber mit dem Musikalischen, der Harmonie in eigent-
licher Bedeutung oder Symphonie, oder auch der Eurhythmie.

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[109/0125] bewährt, Standhaftigkeit, die aus dem Sinn der Wahrheit fliesst. Die Analogie führt aber darauf hin, neben den Tugenden der Vernunft und des Willens noch eine solche anzu- nehmen, die sich unmittelbar auf den dritten Faktor der Akti- vität, das Triebleben bezieht. Auch das klassische System der Kardinaltugenden, dessen tiefe Anlage sich bis dahin be- währte, weist eine solche auf: die Tugend des Maasses, σωφϱοσύνη. § 14. 3. Die Tugend des Trieblebens: Reinheit oder Maass. Es ist ein empfindlicher Mangel unsrer ethischen Kunst- sprache, dass ihr ein Wort fehlt, das dem griechischen σωφϱοσύνη recht entspräche. Die seit Schleiermacher gebräuchliche Ueber- setzung „Besonnenheit“ trifft nur eine, bei Plato vorzüglich wichtige Seite dieser Tugend, aber unterscheidet sie kaum von der φϱόνησις, die wir mit „Besinnung“ wiedergaben. Im griechi- schen ist das Unterscheidende im ersten Bestandteil des Worts, welcher „heil, gesund“ heisst, wenigstens angedeutet; bestimmter giebt es sich kund in dem synonymen Wort κόσμιον. Das be- sagt nicht nur das äusserlich Anständige; der Grundbegriff ist vielmehr der der innern Wohlordnung, der geregelten, harmo- nischen Verfassung der Seele; den Gegensatz bildet die Maass- und Gesetzlosigkeit der Triebe, ὕβϱις. Auf denselben Begriff führt die oft gebrauchte, im Wort σωφϱοσύνη anklingende Ver- gleichung mit der leiblichen Gesundheit. Den Punkt der Ver- gleichung bildet das normale Verhältnis der Funktionen, in dem sie sich gegenseitig nicht stören, sondern unterstützen oder wenigstens streitlos mit einander bestehen. Das setzt voraus, dass jede für sich das rechte Maass innehält. Und so wird diese Tugend auch geradezu als die des Maasses, des μέτϱιον bezeichnet. Das führt dann wieder hinüber zu der Vergleichung mit dem ästhetisch Schönen, „Symmetrischen“, besonders aber mit dem Musikalischen, der Harmonie in eigent- licher Bedeutung oder Symphonie, oder auch der Eurhythmie.

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Zitationshilfe: Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 109. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/125>, abgerufen am 23.11.2024.