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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899.

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deutung für das Gemeinwesen, so hat man nicht bloss das
Recht, sondern die dringendste Pflicht, seine Ueberzeugung
mit allem Nachdruck auszusprechen auf jede eigene oder selbst
fremde bloss persönliche Gefahr. Sogar eine Gefahr fürs
Vaterland selbst dürfte in solchem Fall nicht in Erwägung
kommen. Soll uns das Vaterland "über alles in der Welt"
gelten, so heisst das sicher nicht: auch über die Wahrheit;
als ob ein Vaterland ohne Wahrheit bestehen könnte. Dem
Vaterland gerade schulden wir über alles und vor allem
Wahrheit; wir haben, als sittliche Menschen, kein Vaterland,
wenn es die Wahrheit nicht verträgt. Und wenn die Wahr-
heit bitter ist, so ist es wahrscheinlich umso nötiger, dass sie
gesagt wird. Im allgemeinen ist es notwendig, dass, was
wahr ist, nicht ungesagt bleibe; nur folgt daraus nicht, dass
es gleichgültig wäre, wer es sagt, und wie, und unter welchen
Umständen.

Viel weitergehenden Einschränkungen unterliegt im per-
sönlichen Verkehr die Verpflichtung, die Wahrheit nicht bloss
zu denken, sondern auch zu sagen. Als allgemeines Gesetz
lässt sich aufstellen: dass überall da, wo eine feste innere Ge-
meinschaft besteht und erhalten bleiben soll, gegenseitige
Wahrhaftigkeit nicht nur, sondern offene Aussprache Pflicht
ist. Wer den Andern mit Unwahrheit behandelt, gesteht da-
durch, dass er keine Gemeinschaft mit ihm haben will; aber
auch, seine Herzensmeinung über Dinge, die den Andern
gleichermaassen angehen, zurückzuhalten, bedeutet zum wenig-
sten Ausschluss aus der innersten Gemeinschaft. Doch man
ist nicht verpflichtet mit jedem die innerste Gemeinschaft
zu suchen; Pflicht der Menschlichkeit ist nur, sie nicht von
Grund aus unmöglich zu machen; das geschieht durch Lüge,
aber im allgemeinen nicht durch Zurückhaltung.

Ueberblickt man so das weite Gebiet dieser Tugend, so
kann es fast scheinen, als ob in ihr schon das Ganze der per-
sönlichen Sittlichkeit enthalten wäre. In gewissem Sinne ist
es auch so und muss so sein nach dem, was über das allge-
meine Verhältnis der sämtlichen Grundtugenden festgestellt
wurde: jede von ihnen muss sich auf das Ganze des mensch-

deutung für das Gemeinwesen, so hat man nicht bloss das
Recht, sondern die dringendste Pflicht, seine Ueberzeugung
mit allem Nachdruck auszusprechen auf jede eigene oder selbst
fremde bloss persönliche Gefahr. Sogar eine Gefahr fürs
Vaterland selbst dürfte in solchem Fall nicht in Erwägung
kommen. Soll uns das Vaterland „über alles in der Welt“
gelten, so heisst das sicher nicht: auch über die Wahrheit;
als ob ein Vaterland ohne Wahrheit bestehen könnte. Dem
Vaterland gerade schulden wir über alles und vor allem
Wahrheit; wir haben, als sittliche Menschen, kein Vaterland,
wenn es die Wahrheit nicht verträgt. Und wenn die Wahr-
heit bitter ist, so ist es wahrscheinlich umso nötiger, dass sie
gesagt wird. Im allgemeinen ist es notwendig, dass, was
wahr ist, nicht ungesagt bleibe; nur folgt daraus nicht, dass
es gleichgültig wäre, wer es sagt, und wie, und unter welchen
Umständen.

Viel weitergehenden Einschränkungen unterliegt im per-
sönlichen Verkehr die Verpflichtung, die Wahrheit nicht bloss
zu denken, sondern auch zu sagen. Als allgemeines Gesetz
lässt sich aufstellen: dass überall da, wo eine feste innere Ge-
meinschaft besteht und erhalten bleiben soll, gegenseitige
Wahrhaftigkeit nicht nur, sondern offene Aussprache Pflicht
ist. Wer den Andern mit Unwahrheit behandelt, gesteht da-
durch, dass er keine Gemeinschaft mit ihm haben will; aber
auch, seine Herzensmeinung über Dinge, die den Andern
gleichermaassen angehen, zurückzuhalten, bedeutet zum wenig-
sten Ausschluss aus der innersten Gemeinschaft. Doch man
ist nicht verpflichtet mit jedem die innerste Gemeinschaft
zu suchen; Pflicht der Menschlichkeit ist nur, sie nicht von
Grund aus unmöglich zu machen; das geschieht durch Lüge,
aber im allgemeinen nicht durch Zurückhaltung.

Ueberblickt man so das weite Gebiet dieser Tugend, so
kann es fast scheinen, als ob in ihr schon das Ganze der per-
sönlichen Sittlichkeit enthalten wäre. In gewissem Sinne ist
es auch so und muss so sein nach dem, was über das allge-
meine Verhältnis der sämtlichen Grundtugenden festgestellt
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[100/0116] deutung für das Gemeinwesen, so hat man nicht bloss das Recht, sondern die dringendste Pflicht, seine Ueberzeugung mit allem Nachdruck auszusprechen auf jede eigene oder selbst fremde bloss persönliche Gefahr. Sogar eine Gefahr fürs Vaterland selbst dürfte in solchem Fall nicht in Erwägung kommen. Soll uns das Vaterland „über alles in der Welt“ gelten, so heisst das sicher nicht: auch über die Wahrheit; als ob ein Vaterland ohne Wahrheit bestehen könnte. Dem Vaterland gerade schulden wir über alles und vor allem Wahrheit; wir haben, als sittliche Menschen, kein Vaterland, wenn es die Wahrheit nicht verträgt. Und wenn die Wahr- heit bitter ist, so ist es wahrscheinlich umso nötiger, dass sie gesagt wird. Im allgemeinen ist es notwendig, dass, was wahr ist, nicht ungesagt bleibe; nur folgt daraus nicht, dass es gleichgültig wäre, wer es sagt, und wie, und unter welchen Umständen. Viel weitergehenden Einschränkungen unterliegt im per- sönlichen Verkehr die Verpflichtung, die Wahrheit nicht bloss zu denken, sondern auch zu sagen. Als allgemeines Gesetz lässt sich aufstellen: dass überall da, wo eine feste innere Ge- meinschaft besteht und erhalten bleiben soll, gegenseitige Wahrhaftigkeit nicht nur, sondern offene Aussprache Pflicht ist. Wer den Andern mit Unwahrheit behandelt, gesteht da- durch, dass er keine Gemeinschaft mit ihm haben will; aber auch, seine Herzensmeinung über Dinge, die den Andern gleichermaassen angehen, zurückzuhalten, bedeutet zum wenig- sten Ausschluss aus der innersten Gemeinschaft. Doch man ist nicht verpflichtet mit jedem die innerste Gemeinschaft zu suchen; Pflicht der Menschlichkeit ist nur, sie nicht von Grund aus unmöglich zu machen; das geschieht durch Lüge, aber im allgemeinen nicht durch Zurückhaltung. Ueberblickt man so das weite Gebiet dieser Tugend, so kann es fast scheinen, als ob in ihr schon das Ganze der per- sönlichen Sittlichkeit enthalten wäre. In gewissem Sinne ist es auch so und muss so sein nach dem, was über das allge- meine Verhältnis der sämtlichen Grundtugenden festgestellt wurde: jede von ihnen muss sich auf das Ganze des mensch-

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Zitationshilfe: Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 100. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/116>, abgerufen am 24.11.2024.