praktischen Vernunft. Diese aber soll doch das Ganze des menschlichen Verhaltens regieren. Und so giebt es in der That kein menschliches Thun, keine dem Einfluss des Willens unterliegende menschliche Regung überhaupt, auf die nicht die Forderung der Wahrheit Bezug hätte. Sie besagt im Grunde nichts andres als dass alles Menschliche am sittlichen Maasse, und in jeder praktischen Rücksicht ausschliessend so, zu bemessen ist, dass die Beleuchtung dieser "Sonne im über- himmlischen Reich", der "Idee" der Wahrheit, sich Licht und Schatten verteilend auf das All der praktischen Welt verbreiten muss.
Beweist sich die Tugend der Wahrheit zuerst in der kritischen Reflexion und Willenseinwirkung auf das eigene innere Leben, in der sittlichen Selbstbesinnung und Selbstbestimmung, so beweist sie sich nicht weniger in jeder aufs Objekt ge- richteten Handlung, es sei blosse Erkenntnis oder ausübende That. Im Selbstbewusstsein wurzelt sie immer; aber aufs Selbst bezieht sich eben alles wollende Bewusstsein notwendig zurück. Auch Erkenntnis ist Willensthat, untersteht also dem obersten Gesetz des Willens, dem Gesetz der Wahrheit. Und es ist ja auch kein Zweifel, dass im unbeirrten Wahrheits- streben des Forschers, des seiner Denkkraft mächtigen Menschen überhaupt, in der Energie der Ueberwindung des Sinnentrugs, des Vorurteils, des versteckten Einflusses grober und feiner Interessen auf das Urteil, deren es in aller erkennenden Thätig- keit bedarf, sich hohe Sittlichkeit bethätigen kann. Aber auch in der nach aussen gerichteten That, in jeder, wie man recht sagt, "redlichen" Arbeit kann sich der Sinn der Wahrheit bekunden, als der Sinn, das Werk oder die Sache, an der oder für die man arbeitet, ihrem Gesetz gemäss zu gestalten, auch trotz jedes sich vordrängenden Anspruchs der eigenen Person oder falscher, nicht aus der Sache fliessender persön- licher Rücksicht überhaupt. Ich möchte es die Tugend der Sachlichkeit nennen, die offenbar einer der kräftigsten Aeste am Stamm unserer ersten Grundtugend, der Wahrheit ist. Sie kommt zur Anwendung in jedem menschlichen Werk, mag es sich um Kleines handeln oder um Grosses, um Arbeit an
Natorp, Sozialpädagogik. 7
praktischen Vernunft. Diese aber soll doch das Ganze des menschlichen Verhaltens regieren. Und so giebt es in der That kein menschliches Thun, keine dem Einfluss des Willens unterliegende menschliche Regung überhaupt, auf die nicht die Forderung der Wahrheit Bezug hätte. Sie besagt im Grunde nichts andres als dass alles Menschliche am sittlichen Maasse, und in jeder praktischen Rücksicht ausschliessend so, zu bemessen ist, dass die Beleuchtung dieser „Sonne im über- himmlischen Reich“, der „Idee“ der Wahrheit, sich Licht und Schatten verteilend auf das All der praktischen Welt verbreiten muss.
Beweist sich die Tugend der Wahrheit zuerst in der kritischen Reflexion und Willenseinwirkung auf das eigene innere Leben, in der sittlichen Selbstbesinnung und Selbstbestimmung, so beweist sie sich nicht weniger in jeder aufs Objekt ge- richteten Handlung, es sei blosse Erkenntnis oder ausübende That. Im Selbstbewusstsein wurzelt sie immer; aber aufs Selbst bezieht sich eben alles wollende Bewusstsein notwendig zurück. Auch Erkenntnis ist Willensthat, untersteht also dem obersten Gesetz des Willens, dem Gesetz der Wahrheit. Und es ist ja auch kein Zweifel, dass im unbeirrten Wahrheits- streben des Forschers, des seiner Denkkraft mächtigen Menschen überhaupt, in der Energie der Ueberwindung des Sinnentrugs, des Vorurteils, des versteckten Einflusses grober und feiner Interessen auf das Urteil, deren es in aller erkennenden Thätig- keit bedarf, sich hohe Sittlichkeit bethätigen kann. Aber auch in der nach aussen gerichteten That, in jeder, wie man recht sagt, „redlichen“ Arbeit kann sich der Sinn der Wahrheit bekunden, als der Sinn, das Werk oder die Sache, an der oder für die man arbeitet, ihrem Gesetz gemäss zu gestalten, auch trotz jedes sich vordrängenden Anspruchs der eigenen Person oder falscher, nicht aus der Sache fliessender persön- licher Rücksicht überhaupt. Ich möchte es die Tugend der Sachlichkeit nennen, die offenbar einer der kräftigsten Aeste am Stamm unserer ersten Grundtugend, der Wahrheit ist. Sie kommt zur Anwendung in jedem menschlichen Werk, mag es sich um Kleines handeln oder um Grosses, um Arbeit an
Natorp, Sozialpädagogik. 7
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praktischen Vernunft. Diese aber soll doch das Ganze des
menschlichen Verhaltens regieren. Und so giebt es in der
That kein menschliches Thun, keine dem Einfluss des Willens
unterliegende menschliche Regung überhaupt, auf die nicht
die Forderung der Wahrheit Bezug hätte. Sie besagt im
Grunde nichts andres als dass alles Menschliche am sittlichen
Maasse, und in jeder praktischen Rücksicht ausschliessend so,
zu bemessen ist, dass die Beleuchtung dieser „Sonne im über-
himmlischen Reich“, der „Idee“ der Wahrheit, sich Licht
und Schatten verteilend auf das All der praktischen Welt
verbreiten muss.
Beweist sich die Tugend der Wahrheit zuerst in der
kritischen Reflexion und Willenseinwirkung auf das eigene innere
Leben, in der sittlichen Selbstbesinnung und Selbstbestimmung,
so beweist sie sich nicht weniger in jeder aufs Objekt ge-
richteten Handlung, es sei blosse Erkenntnis oder ausübende
That. Im Selbstbewusstsein wurzelt sie immer; aber aufs
Selbst bezieht sich eben alles wollende Bewusstsein notwendig
zurück. Auch Erkenntnis ist Willensthat, untersteht also dem
obersten Gesetz des Willens, dem Gesetz der Wahrheit. Und
es ist ja auch kein Zweifel, dass im unbeirrten Wahrheits-
streben des Forschers, des seiner Denkkraft mächtigen Menschen
überhaupt, in der Energie der Ueberwindung des Sinnentrugs,
des Vorurteils, des versteckten Einflusses grober und feiner
Interessen auf das Urteil, deren es in aller erkennenden Thätig-
keit bedarf, sich hohe Sittlichkeit bethätigen kann. Aber auch
in der nach aussen gerichteten That, in jeder, wie man recht
sagt, „redlichen“ Arbeit kann sich der Sinn der Wahrheit
bekunden, als der Sinn, das Werk oder die Sache, an der
oder für die man arbeitet, ihrem Gesetz gemäss zu gestalten,
auch trotz jedes sich vordrängenden Anspruchs der eigenen
Person oder falscher, nicht aus der Sache fliessender persön-
licher Rücksicht überhaupt. Ich möchte es die Tugend der
Sachlichkeit nennen, die offenbar einer der kräftigsten Aeste
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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 97. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/113>, abgerufen am 24.11.2024.
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