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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899.

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hebung der Seele, ein kraftvolles Aufraffen zur That schliess-
lich kaum aufkommen lässt.

Desto stärker ist der echte, positive Sinn der Indi-
vidualität
des Sittlichen gerade hier zu betonen: dass es
gilt in selbsteigener Einsicht das Rechte für recht, das Ver-
kehrte für verkehrt zu erkennen, unbeirrt nicht bloss durch
die eigene individuelle Gefühlsneigung oder Denkgewöhnung,
sondern durch irgendwelche empirische Zufälligkeit überhaupt,
die unser praktisches Urteil in einer bestimmten Richtung
festzuhalten, ihm den freien Aufblick zur Idee zu verlegen
droht; von Sitte und äusserem Gesetz, von bloss überlieferten
Normen jeder Art, auch von dem Drucke der persönlichen
Autorität überlegener Individuen. Es demütigt zwar, aber ist
zugleich auch wieder erhebend, zu wissen, dass nur wir selbst
uns dazu verhelfen können, das Gute zu erkennen und zu
wollen, und kein Andrer etwas mehr dazu thun kann, als dass
er die in uns schlummernde Kraft selbsteigenen Erkennens und
Wollens aufruft und in Thätigkeit setzt. Denn die Gemein-
schaft erzieht, aber sie erzieht nur dadurch, dass sie das
Individuum zur Freiheit des Selbstbewusstseins erweckt.

Daraus folgt: dass die innere Wahrhaftigkeit, die Wahr-
heit "gegen sich selbst", die Aufrichtigkeit des "Herzens" der
äusseren Aufrichtigkeit vorgeht. Das ist wohl die unbedingteste,
unanfechtbarste Tugend, wie ihr Gegenteil, Lüge gegen sich
selbst, die unverzeihlichste Schlechtigkeit. Zugleich ist innere
Aufrichtigkeit die einzig verlässliche Grundlage der äusseren
Wahrhaftigkeit. Wer nicht zu allererst gegen sich selbst
lauter und aufrichtig ist, der ist es schwerlich gegen Andre.
Zwar lernt es sich leichter im alltäglichen Verkehr, gegen
Andre eine gewisse Aufrichtigkeit zu beobachten, weil gröbere
Unwahrhaftigkeit gegen die Umgebung sich weit schneller
und empfindlicher rächt als selbst die ärgste innere Unwahr-
heit, die sich wie eine schleichende Krankheit lange verstecken
und scheinbar folgenlos bleiben kann. Aber auch die äussere
Wahrhaftigkeit wird, auf ernste Proben gestellt, unrettbar
scheitern, wenn sie nicht auf dem sicheren Grunde innerer
Lauterkeit ruht.


hebung der Seele, ein kraftvolles Aufraffen zur That schliess-
lich kaum aufkommen lässt.

Desto stärker ist der echte, positive Sinn der Indi-
vidualität
des Sittlichen gerade hier zu betonen: dass es
gilt in selbsteigener Einsicht das Rechte für recht, das Ver-
kehrte für verkehrt zu erkennen, unbeirrt nicht bloss durch
die eigene individuelle Gefühlsneigung oder Denkgewöhnung,
sondern durch irgendwelche empirische Zufälligkeit überhaupt,
die unser praktisches Urteil in einer bestimmten Richtung
festzuhalten, ihm den freien Aufblick zur Idee zu verlegen
droht; von Sitte und äusserem Gesetz, von bloss überlieferten
Normen jeder Art, auch von dem Drucke der persönlichen
Autorität überlegener Individuen. Es demütigt zwar, aber ist
zugleich auch wieder erhebend, zu wissen, dass nur wir selbst
uns dazu verhelfen können, das Gute zu erkennen und zu
wollen, und kein Andrer etwas mehr dazu thun kann, als dass
er die in uns schlummernde Kraft selbsteigenen Erkennens und
Wollens aufruft und in Thätigkeit setzt. Denn die Gemein-
schaft erzieht, aber sie erzieht nur dadurch, dass sie das
Individuum zur Freiheit des Selbstbewusstseins erweckt.

Daraus folgt: dass die innere Wahrhaftigkeit, die Wahr-
heit „gegen sich selbst“, die Aufrichtigkeit des „Herzens“ der
äusseren Aufrichtigkeit vorgeht. Das ist wohl die unbedingteste,
unanfechtbarste Tugend, wie ihr Gegenteil, Lüge gegen sich
selbst, die unverzeihlichste Schlechtigkeit. Zugleich ist innere
Aufrichtigkeit die einzig verlässliche Grundlage der äusseren
Wahrhaftigkeit. Wer nicht zu allererst gegen sich selbst
lauter und aufrichtig ist, der ist es schwerlich gegen Andre.
Zwar lernt es sich leichter im alltäglichen Verkehr, gegen
Andre eine gewisse Aufrichtigkeit zu beobachten, weil gröbere
Unwahrhaftigkeit gegen die Umgebung sich weit schneller
und empfindlicher rächt als selbst die ärgste innere Unwahr-
heit, die sich wie eine schleichende Krankheit lange verstecken
und scheinbar folgenlos bleiben kann. Aber auch die äussere
Wahrhaftigkeit wird, auf ernste Proben gestellt, unrettbar
scheitern, wenn sie nicht auf dem sicheren Grunde innerer
Lauterkeit ruht.


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[95/0111] hebung der Seele, ein kraftvolles Aufraffen zur That schliess- lich kaum aufkommen lässt. Desto stärker ist der echte, positive Sinn der Indi- vidualität des Sittlichen gerade hier zu betonen: dass es gilt in selbsteigener Einsicht das Rechte für recht, das Ver- kehrte für verkehrt zu erkennen, unbeirrt nicht bloss durch die eigene individuelle Gefühlsneigung oder Denkgewöhnung, sondern durch irgendwelche empirische Zufälligkeit überhaupt, die unser praktisches Urteil in einer bestimmten Richtung festzuhalten, ihm den freien Aufblick zur Idee zu verlegen droht; von Sitte und äusserem Gesetz, von bloss überlieferten Normen jeder Art, auch von dem Drucke der persönlichen Autorität überlegener Individuen. Es demütigt zwar, aber ist zugleich auch wieder erhebend, zu wissen, dass nur wir selbst uns dazu verhelfen können, das Gute zu erkennen und zu wollen, und kein Andrer etwas mehr dazu thun kann, als dass er die in uns schlummernde Kraft selbsteigenen Erkennens und Wollens aufruft und in Thätigkeit setzt. Denn die Gemein- schaft erzieht, aber sie erzieht nur dadurch, dass sie das Individuum zur Freiheit des Selbstbewusstseins erweckt. Daraus folgt: dass die innere Wahrhaftigkeit, die Wahr- heit „gegen sich selbst“, die Aufrichtigkeit des „Herzens“ der äusseren Aufrichtigkeit vorgeht. Das ist wohl die unbedingteste, unanfechtbarste Tugend, wie ihr Gegenteil, Lüge gegen sich selbst, die unverzeihlichste Schlechtigkeit. Zugleich ist innere Aufrichtigkeit die einzig verlässliche Grundlage der äusseren Wahrhaftigkeit. Wer nicht zu allererst gegen sich selbst lauter und aufrichtig ist, der ist es schwerlich gegen Andre. Zwar lernt es sich leichter im alltäglichen Verkehr, gegen Andre eine gewisse Aufrichtigkeit zu beobachten, weil gröbere Unwahrhaftigkeit gegen die Umgebung sich weit schneller und empfindlicher rächt als selbst die ärgste innere Unwahr- heit, die sich wie eine schleichende Krankheit lange verstecken und scheinbar folgenlos bleiben kann. Aber auch die äussere Wahrhaftigkeit wird, auf ernste Proben gestellt, unrettbar scheitern, wenn sie nicht auf dem sicheren Grunde innerer Lauterkeit ruht.

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Zitationshilfe: Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 95. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/111>, abgerufen am 23.11.2024.