von unersetzlichem Wert und auch die niedere Stufe der Furcht nicht überhaupt abzulehnen. Die Furcht soll über- wunden werden, aber sie darf auch für den sittlich Reifsten, so lange er fehlbarer Mensch ist, nie ganz überwunden sein. Gerade die höchste Erhebung des sittlichen Gedankens zur Idee unendlicher Vollkommenheit kann das Moment der Furcht wegen unserer endlichen Schwachheit, kann das Gefühl der Demut niemals abstreifen; und es ist an sich ein Vorzug, dass das Wort "Gewissen" dieses Moment deutlich mitbe- zeichnet. Aber doch ist eine solche blosse Gefühlshaltung an sich nicht Tugend. Sie ist mehr ihr Kennzeichen als ihr Grund; dieser kann nur in der reinen Bewusstseinstugend, im aufrichtigen Wollen der Wahrheit gefunden werden. Es würde mindestens noch ein unterscheidender Zusatz nötig sein, wenn man mit Gewissen oder Gewissenhaftigkeit die oberste der Tugenden bezeichnen wollte, und dann wäre ein Ausdruck wie Wahrheit (Gewissen der Wahrheit, im Unterschied vom Gewissen der Furcht oder der Liebe) doch nicht zu umgehen. Das Wort Wahrheit ist aber gehaltreich genug, um das Beste, was in "Gewissen" ausgedrückt ist, mitzubezeichnen; und so möchte ihm in jeder Beziehung der Vorzug gebühren.
Um nun den Gehalt dieser Tugend mehr im besonderen zu entwickeln, nehmen wir unsern Ausgang von dem soeben Berührten: dass der kritische Sinn des Bewusstseins unserer Grenze von der Tugend der sittlichen Wahrheit allerdings untrennbar ist. Gegenüber der unendlichen Forde- rung des Sittengesetzes kann das Selbstbewusstsein unseres Wollens und Thuns nicht anders als demütigend sein. Und das um so mehr, je mehr es das Individuum ganz mit sich allein zu thun hat. Indessen verrät sich schon hier die Schranke einer einseitig individualistischen Auffassung des Sittlichen. Die sittliche Aufgabe in ihrer Unendlichkeit kann nicht mit Sinn als Aufgabe für das isolierte Individuum gedacht werden. So ratsam es ist, mit der sittlichen Besserung bei sich anzu- fangen, so unfruchtbar, so hinderlich sogar für den eigenen sittlichen Fortschritt ist die unablässige peinliche Beschäftigung mit sich und seinen individuellen Fehlern, die eine starke Er-
von unersetzlichem Wert und auch die niedere Stufe der Furcht nicht überhaupt abzulehnen. Die Furcht soll über- wunden werden, aber sie darf auch für den sittlich Reifsten, so lange er fehlbarer Mensch ist, nie ganz überwunden sein. Gerade die höchste Erhebung des sittlichen Gedankens zur Idee unendlicher Vollkommenheit kann das Moment der Furcht wegen unserer endlichen Schwachheit, kann das Gefühl der Demut niemals abstreifen; und es ist an sich ein Vorzug, dass das Wort „Gewissen“ dieses Moment deutlich mitbe- zeichnet. Aber doch ist eine solche blosse Gefühlshaltung an sich nicht Tugend. Sie ist mehr ihr Kennzeichen als ihr Grund; dieser kann nur in der reinen Bewusstseinstugend, im aufrichtigen Wollen der Wahrheit gefunden werden. Es würde mindestens noch ein unterscheidender Zusatz nötig sein, wenn man mit Gewissen oder Gewissenhaftigkeit die oberste der Tugenden bezeichnen wollte, und dann wäre ein Ausdruck wie Wahrheit (Gewissen der Wahrheit, im Unterschied vom Gewissen der Furcht oder der Liebe) doch nicht zu umgehen. Das Wort Wahrheit ist aber gehaltreich genug, um das Beste, was in „Gewissen“ ausgedrückt ist, mitzubezeichnen; und so möchte ihm in jeder Beziehung der Vorzug gebühren.
Um nun den Gehalt dieser Tugend mehr im besonderen zu entwickeln, nehmen wir unsern Ausgang von dem soeben Berührten: dass der kritische Sinn des Bewusstseins unserer Grenze von der Tugend der sittlichen Wahrheit allerdings untrennbar ist. Gegenüber der unendlichen Forde- rung des Sittengesetzes kann das Selbstbewusstsein unseres Wollens und Thuns nicht anders als demütigend sein. Und das um so mehr, je mehr es das Individuum ganz mit sich allein zu thun hat. Indessen verrät sich schon hier die Schranke einer einseitig individualistischen Auffassung des Sittlichen. Die sittliche Aufgabe in ihrer Unendlichkeit kann nicht mit Sinn als Aufgabe für das isolierte Individuum gedacht werden. So ratsam es ist, mit der sittlichen Besserung bei sich anzu- fangen, so unfruchtbar, so hinderlich sogar für den eigenen sittlichen Fortschritt ist die unablässige peinliche Beschäftigung mit sich und seinen individuellen Fehlern, die eine starke Er-
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[94/0110]
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Furcht nicht überhaupt abzulehnen. Die Furcht soll über-
wunden werden, aber sie darf auch für den sittlich Reifsten,
so lange er fehlbarer Mensch ist, nie ganz überwunden sein.
Gerade die höchste Erhebung des sittlichen Gedankens zur
Idee unendlicher Vollkommenheit kann das Moment der Furcht
wegen unserer endlichen Schwachheit, kann das Gefühl der
Demut niemals abstreifen; und es ist an sich ein Vorzug,
dass das Wort „Gewissen“ dieses Moment deutlich mitbe-
zeichnet. Aber doch ist eine solche blosse Gefühlshaltung
an sich nicht Tugend. Sie ist mehr ihr Kennzeichen als ihr
Grund; dieser kann nur in der reinen Bewusstseinstugend, im
aufrichtigen Wollen der Wahrheit gefunden werden. Es würde
mindestens noch ein unterscheidender Zusatz nötig sein, wenn
man mit Gewissen oder Gewissenhaftigkeit die oberste der
Tugenden bezeichnen wollte, und dann wäre ein Ausdruck
wie Wahrheit (Gewissen der Wahrheit, im Unterschied vom
Gewissen der Furcht oder der Liebe) doch nicht zu umgehen.
Das Wort Wahrheit ist aber gehaltreich genug, um das Beste,
was in „Gewissen“ ausgedrückt ist, mitzubezeichnen; und so
möchte ihm in jeder Beziehung der Vorzug gebühren.
Um nun den Gehalt dieser Tugend mehr im besonderen
zu entwickeln, nehmen wir unsern Ausgang von dem soeben
Berührten: dass der kritische Sinn des Bewusstseins
unserer Grenze von der Tugend der sittlichen Wahrheit
allerdings untrennbar ist. Gegenüber der unendlichen Forde-
rung des Sittengesetzes kann das Selbstbewusstsein unseres
Wollens und Thuns nicht anders als demütigend sein. Und
das um so mehr, je mehr es das Individuum ganz mit sich
allein zu thun hat. Indessen verrät sich schon hier die Schranke
einer einseitig individualistischen Auffassung des Sittlichen.
Die sittliche Aufgabe in ihrer Unendlichkeit kann nicht mit
Sinn als Aufgabe für das isolierte Individuum gedacht werden.
So ratsam es ist, mit der sittlichen Besserung bei sich anzu-
fangen, so unfruchtbar, so hinderlich sogar für den eigenen
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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 94. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/110>, abgerufen am 23.11.2024.
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