der Tugend der Gemeinschaft als solcher. Diese hat Plato sonst bei dem Namen Gerechtigkeit hauptsächlich im Sinn, und es ist vielleicht dieser Doppelsinn der Gerechtigkeit als Tugend des Individuums sowohl als der Gemeinschaft gewesen, der ihn auf den Parallelismus der individualen und sozialen Tugend überhaupt führte. So bleibt auch hier die allgemeine Rich- tung seines Gedankens anzuerkennen, nur die Ausführung der Verbesserung bedürftig.
Nachdem so unsre Einteilung der Tugenden vorläufig gerechtfertigt ist, dürfen wir zur Spezialbehandlung zunächst der individuellen Tugenden übergehen.
§ 12. System der individuellen Tugenden.
1. Die Tugend der Vernunft: Wahrheit.
Da im vernünftigen Wollen überhaupt die Sittlichkeit besteht, so ist die erste der individuellen Tugenden die Tugend der Vernunft; die erste nicht bloss dem Range nach, sondern als Voraussetzung aller übrigen. Sie bezeichnet die Sitt- lichkeit der Person in so zentraler, folglich fundamentaler Weise wie keine andre, nämlich nach ihrem letzten Grunde im Bewusstsein. Sittlichkeit ist zu allererst Bewusstseins- sache, darum ist die Tugend des Bewusstseins die erste aller Tugenden.
Wir nennen sie Wahrheit, schon um an die Einheit der praktischen mit der theoretischen Vernunft zu erinnern. Wahrheit ist das oberste Gesetz des Bewusstseins überhaupt, der Sinn und Wille der Wahrheit das oberste Gesetz des praktischen Bewusstseins.
Die Alten haben es nicht gescheut, geradezu episteme, Erkenntnis, oder sophia. im gleichen Sinne des Wissens, der praktischen Einsicht, als Tugendnamen zu gebrauchen; auch wechselt damit nicht selten der Ausdruck Wahrheit (aletheia), der besonders bei Plato unter den zentralen Be-
der Tugend der Gemeinschaft als solcher. Diese hat Plato sonst bei dem Namen Gerechtigkeit hauptsächlich im Sinn, und es ist vielleicht dieser Doppelsinn der Gerechtigkeit als Tugend des Individuums sowohl als der Gemeinschaft gewesen, der ihn auf den Parallelismus der individualen und sozialen Tugend überhaupt führte. So bleibt auch hier die allgemeine Rich- tung seines Gedankens anzuerkennen, nur die Ausführung der Verbesserung bedürftig.
Nachdem so unsre Einteilung der Tugenden vorläufig gerechtfertigt ist, dürfen wir zur Spezialbehandlung zunächst der individuellen Tugenden übergehen.
§ 12. System der individuellen Tugenden.
1. Die Tugend der Vernunft: Wahrheit.
Da im vernünftigen Wollen überhaupt die Sittlichkeit besteht, so ist die erste der individuellen Tugenden die Tugend der Vernunft; die erste nicht bloss dem Range nach, sondern als Voraussetzung aller übrigen. Sie bezeichnet die Sitt- lichkeit der Person in so zentraler, folglich fundamentaler Weise wie keine andre, nämlich nach ihrem letzten Grunde im Bewusstsein. Sittlichkeit ist zu allererst Bewusstseins- sache, darum ist die Tugend des Bewusstseins die erste aller Tugenden.
Wir nennen sie Wahrheit, schon um an die Einheit der praktischen mit der theoretischen Vernunft zu erinnern. Wahrheit ist das oberste Gesetz des Bewusstseins überhaupt, der Sinn und Wille der Wahrheit das oberste Gesetz des praktischen Bewusstseins.
Die Alten haben es nicht gescheut, geradezu ἐπιστήμη, Erkenntnis, oder σοφία. im gleichen Sinne des Wissens, der praktischen Einsicht, als Tugendnamen zu gebrauchen; auch wechselt damit nicht selten der Ausdruck Wahrheit (ἀλήϑεια), der besonders bei Plato unter den zentralen Be-
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der Tugend der Gemeinschaft als solcher. Diese hat Plato sonst
bei dem Namen Gerechtigkeit hauptsächlich im Sinn, und es ist
vielleicht dieser Doppelsinn der Gerechtigkeit als Tugend des
Individuums sowohl als der Gemeinschaft gewesen, der ihn
auf den Parallelismus der individualen und sozialen Tugend
überhaupt führte. So bleibt auch hier die allgemeine Rich-
tung seines Gedankens anzuerkennen, nur die Ausführung der
Verbesserung bedürftig.
Nachdem so unsre Einteilung der Tugenden vorläufig
gerechtfertigt ist, dürfen wir zur Spezialbehandlung zunächst
der individuellen Tugenden übergehen.
§ 12.
System der individuellen Tugenden.
1. Die Tugend der Vernunft: Wahrheit.
Da im vernünftigen Wollen überhaupt die Sittlichkeit
besteht, so ist die erste der individuellen Tugenden die Tugend
der Vernunft; die erste nicht bloss dem Range nach, sondern
als Voraussetzung aller übrigen. Sie bezeichnet die Sitt-
lichkeit der Person in so zentraler, folglich fundamentaler
Weise wie keine andre, nämlich nach ihrem letzten Grunde
im Bewusstsein. Sittlichkeit ist zu allererst Bewusstseins-
sache, darum ist die Tugend des Bewusstseins die erste aller
Tugenden.
Wir nennen sie Wahrheit, schon um an die Einheit
der praktischen mit der theoretischen Vernunft zu erinnern.
Wahrheit ist das oberste Gesetz des Bewusstseins überhaupt,
der Sinn und Wille der Wahrheit das oberste Gesetz des
praktischen Bewusstseins.
Die Alten haben es nicht gescheut, geradezu ἐπιστήμη,
Erkenntnis, oder σοφία. im gleichen Sinne des Wissens,
der praktischen Einsicht, als Tugendnamen zu gebrauchen;
auch wechselt damit nicht selten der Ausdruck Wahrheit
(ἀλήϑεια), der besonders bei Plato unter den zentralen Be-
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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 91. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/107>, abgerufen am 03.03.2025.
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