gegangen, dass man an eine fundamentale Untersuchung über irgend ein Problem der Sozialwissenschaft die Frage immer zuerst richten wird, wieweit ihre Erkenntnis dadurch ge- fördert sei. Die Förderung aber, die hier vor allem notthut, sehen wir in der Erkenntnis, dass eine Entwicklung irgend- welcher Art sich nicht anders zu klarem Begriff bringen und methodisch beherrschen lässt, als auf Grund der Idee. Ein Gesetz der Entwicklung lässt sich nur entwerfen aus dem Standpunkte der Idee, indem man sie, nach Kants Terminus, als "regulatives Prinzip" in die Erfahrung einführt. Diesen von Kant gewiesenen, aber nur in einzelnen Andeutungen von ihm selbst betretenen Weg gedenken wir zu verfolgen; die Deduktionen des grundlegenden Teils enthalten die Rechtferti- gung dafür.
Nach allem, was über die psychologische Seite unsrer Aufgabe schon bemerkt worden ist, bedarf es nur kurzer Er- innerung, dass diese ganze Ableitung nicht als psychologisch verstanden und beurteilt sein möchte. Es ist ein rein objek- tiver, vor aller Psychologie feststehender Unterschied, ob das menschliche Bestreben, als blosser Trieb, an den Augenblick und das vor Augen Liegende gefesselt bleibt, oder ob es sich mit dem Entschluss "Ich will" über den Zwang des Augen- blicks erhebt und, selbst wenn es der Gegenstand des augen- blicklichen Triebes wäre, den es bejaht, doch eben wagt, ur- teilend über den Trieb hinauszugehen und ihm das Seinsollende zum Objekt zu setzen; oder ob endlich diese Freiheit des Ur- teilens sich, unter dem Namen der praktischen Vernunft, bis zum Standpunkte der Idee in ihrer Unbedingtheit erhebt. Es sind die wesentlichen Stufen der Durchdringung der Er- fahrung mit der Idee im Bewusstsein, die damit bezeichnet sind; etwas das sich auf bloss psychologischem Wege über- haupt nicht verständlich machen liesse. Diesen Stufen also müssen die Grundtugenden, und so alles Weitere, wovon eben die Rede war, entsprechen.
Will man dies Verhältnis aber psychologisch ausdrücken, so muss man sich dessen vor allem bewusst bleiben, dass die Scheidung jener drei Faktoren auf blosser Abstraktion
gegangen, dass man an eine fundamentale Untersuchung über irgend ein Problem der Sozialwissenschaft die Frage immer zuerst richten wird, wieweit ihre Erkenntnis dadurch ge- fördert sei. Die Förderung aber, die hier vor allem notthut, sehen wir in der Erkenntnis, dass eine Entwicklung irgend- welcher Art sich nicht anders zu klarem Begriff bringen und methodisch beherrschen lässt, als auf Grund der Idee. Ein Gesetz der Entwicklung lässt sich nur entwerfen aus dem Standpunkte der Idee, indem man sie, nach Kants Terminus, als „regulatives Prinzip“ in die Erfahrung einführt. Diesen von Kant gewiesenen, aber nur in einzelnen Andeutungen von ihm selbst betretenen Weg gedenken wir zu verfolgen; die Deduktionen des grundlegenden Teils enthalten die Rechtferti- gung dafür.
Nach allem, was über die psychologische Seite unsrer Aufgabe schon bemerkt worden ist, bedarf es nur kurzer Er- innerung, dass diese ganze Ableitung nicht als psychologisch verstanden und beurteilt sein möchte. Es ist ein rein objek- tiver, vor aller Psychologie feststehender Unterschied, ob das menschliche Bestreben, als blosser Trieb, an den Augenblick und das vor Augen Liegende gefesselt bleibt, oder ob es sich mit dem Entschluss „Ich will“ über den Zwang des Augen- blicks erhebt und, selbst wenn es der Gegenstand des augen- blicklichen Triebes wäre, den es bejaht, doch eben wagt, ur- teilend über den Trieb hinauszugehen und ihm das Seinsollende zum Objekt zu setzen; oder ob endlich diese Freiheit des Ur- teilens sich, unter dem Namen der praktischen Vernunft, bis zum Standpunkte der Idee in ihrer Unbedingtheit erhebt. Es sind die wesentlichen Stufen der Durchdringung der Er- fahrung mit der Idee im Bewusstsein, die damit bezeichnet sind; etwas das sich auf bloss psychologischem Wege über- haupt nicht verständlich machen liesse. Diesen Stufen also müssen die Grundtugenden, und so alles Weitere, wovon eben die Rede war, entsprechen.
Will man dies Verhältnis aber psychologisch ausdrücken, so muss man sich dessen vor allem bewusst bleiben, dass die Scheidung jener drei Faktoren auf blosser Abstraktion
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gegangen, dass man an eine fundamentale Untersuchung über
irgend ein Problem der Sozialwissenschaft die Frage immer
zuerst richten wird, wieweit ihre Erkenntnis dadurch ge-
fördert sei. Die Förderung aber, die hier vor allem notthut,
sehen wir in der Erkenntnis, dass eine Entwicklung irgend-
welcher Art sich nicht anders zu klarem Begriff bringen und
methodisch beherrschen lässt, als auf Grund der Idee. Ein
Gesetz der Entwicklung lässt sich nur entwerfen aus dem
Standpunkte der Idee, indem man sie, nach Kants Terminus,
als „regulatives Prinzip“ in die Erfahrung einführt. Diesen
von Kant gewiesenen, aber nur in einzelnen Andeutungen von
ihm selbst betretenen Weg gedenken wir zu verfolgen; die
Deduktionen des grundlegenden Teils enthalten die Rechtferti-
gung dafür.
Nach allem, was über die psychologische Seite unsrer
Aufgabe schon bemerkt worden ist, bedarf es nur kurzer Er-
innerung, dass diese ganze Ableitung nicht als psychologisch
verstanden und beurteilt sein möchte. Es ist ein rein objek-
tiver, vor aller Psychologie feststehender Unterschied, ob das
menschliche Bestreben, als blosser Trieb, an den Augenblick
und das vor Augen Liegende gefesselt bleibt, oder ob es sich
mit dem Entschluss „Ich will“ über den Zwang des Augen-
blicks erhebt und, selbst wenn es der Gegenstand des augen-
blicklichen Triebes wäre, den es bejaht, doch eben wagt, ur-
teilend über den Trieb hinauszugehen und ihm das Seinsollende
zum Objekt zu setzen; oder ob endlich diese Freiheit des Ur-
teilens sich, unter dem Namen der praktischen Vernunft, bis
zum Standpunkte der Idee in ihrer Unbedingtheit erhebt. Es
sind die wesentlichen Stufen der Durchdringung der Er-
fahrung mit der Idee im Bewusstsein, die damit bezeichnet
sind; etwas das sich auf bloss psychologischem Wege über-
haupt nicht verständlich machen liesse. Diesen Stufen also
müssen die Grundtugenden, und so alles Weitere, wovon eben
die Rede war, entsprechen.
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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 88. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/104>, abgerufen am 22.11.2024.
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