Zum Sylvester war sie immer am liebsten zu Tante Rieke gegangen. Da gab es Punsch und Kuchen, und außerdem, daß man wohl ernsthaft sprach und sang, ging es doch auch sehr vergnüglich her, und für die jungen Leute gab es mancherlei Spaß, denn die Tante war trotz aller Pietisterei doch sehr heiter, konnte selbst recht drollig sein und hinderte die jungen Leute nicht, es ebenso zu machen. Heute war ihr das freilich ganz egal, und als ihre Freundinnen ihre Schweig¬ samkeit bemerkten, that sie etwas erschrocken, schmun¬ zelte aber doch dabei, daß alle behaupteten: dahinter müsse etwas stecken. Fritz Buchstein, der auch unter den Gästen war, sah sie scharf an bei diesen Scherzen, und der Blick war ihr wieder sehr fatal. Doch ward man lebhafter bei einem Gläschen Punsch und be¬ merkte Klärchens Schweigsamkeit nicht mehr. Selbst Fritz ward ungewöhnlich redselig und erzählte sehr un¬ terhaltend von seiner Wanderschaft. Gretchen hing an jedem Worte, das er sagte: selbst Klärchen mußte gestehen, daß er ein ausgezeichneter Tischlergeselle sei: die Worte gingen ihm gewandt von den Lip¬ pen, seine Augen waren lebendig, seine Wangen ge¬ röthet, sie wußte selbst nicht wie, aber es fielen ihr die Helden aus den Ritterromanen ein, wie sie be¬ schrieben werden, so sanft und mild und dabei so edel und männlich. Sie begann fast, ihn dem Gretchen nicht zu gönnen, obgleich sie selbst himmelhoch über ihm stand; denn es war doch nur ein ungebildeter Mann, und solch einen Brief konnte er nicht schreiben, wie sie ihn auf dem Herzen trug. Darin hatte sie Recht, solch einen Brief konnte er nicht schreiben: er war
Zum Sylveſter war ſie immer am liebſten zu Tante Rieke gegangen. Da gab es Punſch und Kuchen, und außerdem, daß man wohl ernſthaft ſprach und ſang, ging es doch auch ſehr vergnüglich her, und für die jungen Leute gab es mancherlei Spaß, denn die Tante war trotz aller Pietiſterei doch ſehr heiter, konnte ſelbſt recht drollig ſein und hinderte die jungen Leute nicht, es ebenſo zu machen. Heute war ihr das freilich ganz egal, und als ihre Freundinnen ihre Schweig¬ ſamkeit bemerkten, that ſie etwas erſchrocken, ſchmun¬ zelte aber doch dabei, daß alle behaupteten: dahinter müſſe etwas ſtecken. Fritz Buchſtein, der auch unter den Gäſten war, ſah ſie ſcharf an bei dieſen Scherzen, und der Blick war ihr wieder ſehr fatal. Doch ward man lebhafter bei einem Gläschen Punſch und be¬ merkte Klärchens Schweigſamkeit nicht mehr. Selbſt Fritz ward ungewöhnlich redſelig und erzählte ſehr un¬ terhaltend von ſeiner Wanderſchaft. Gretchen hing an jedem Worte, das er ſagte: ſelbſt Klärchen mußte geſtehen, daß er ein ausgezeichneter Tiſchlergeſelle ſei: die Worte gingen ihm gewandt von den Lip¬ pen, ſeine Augen waren lebendig, ſeine Wangen ge¬ röthet, ſie wußte ſelbſt nicht wie, aber es fielen ihr die Helden aus den Ritterromanen ein, wie ſie be¬ ſchrieben werden, ſo ſanft und mild und dabei ſo edel und männlich. Sie begann faſt, ihn dem Gretchen nicht zu gönnen, obgleich ſie ſelbſt himmelhoch über ihm ſtand; denn es war doch nur ein ungebildeter Mann, und ſolch einen Brief konnte er nicht ſchreiben, wie ſie ihn auf dem Herzen trug. Darin hatte ſie Recht, ſolch einen Brief konnte er nicht ſchreiben: er war
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Zum Sylveſter war ſie immer am liebſten zu
Tante Rieke gegangen. Da gab es Punſch und Kuchen,
und außerdem, daß man wohl ernſthaft ſprach und
ſang, ging es doch auch ſehr vergnüglich her, und für
die jungen Leute gab es mancherlei Spaß, denn die
Tante war trotz aller Pietiſterei doch ſehr heiter, konnte
ſelbſt recht drollig ſein und hinderte die jungen Leute
nicht, es ebenſo zu machen. Heute war ihr das freilich
ganz egal, und als ihre Freundinnen ihre Schweig¬
ſamkeit bemerkten, that ſie etwas erſchrocken, ſchmun¬
zelte aber doch dabei, daß alle behaupteten: dahinter
müſſe etwas ſtecken. Fritz Buchſtein, der auch unter
den Gäſten war, ſah ſie ſcharf an bei dieſen Scherzen,
und der Blick war ihr wieder ſehr fatal. Doch ward
man lebhafter bei einem Gläschen Punſch und be¬
merkte Klärchens Schweigſamkeit nicht mehr. Selbſt
Fritz ward ungewöhnlich redſelig und erzählte ſehr un¬
terhaltend von ſeiner Wanderſchaft. Gretchen hing
an jedem Worte, das er ſagte: ſelbſt Klärchen mußte
geſtehen, daß er ein ausgezeichneter Tiſchlergeſelle
ſei: die Worte gingen ihm gewandt von den Lip¬
pen, ſeine Augen waren lebendig, ſeine Wangen ge¬
röthet, ſie wußte ſelbſt nicht wie, aber es fielen ihr
die Helden aus den Ritterromanen ein, wie ſie be¬
ſchrieben werden, ſo ſanft und mild und dabei ſo edel
und männlich. Sie begann faſt, ihn dem Gretchen nicht
zu gönnen, obgleich ſie ſelbſt himmelhoch über ihm
ſtand; denn es war doch nur ein ungebildeter Mann,
und ſolch einen Brief konnte er nicht ſchreiben, wie
ſie ihn auf dem Herzen trug. Darin hatte ſie Recht,
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Nathusius, Marie: Die Kammerjungfer. Eine Stadtgeschichte. Halle (Saale), 1851, S. 36. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nathusius_kammerjungfer_1851/42>, abgerufen am 16.07.2024.
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