der Himmel war heute so licht, die Wolken daran von der sinkenden Sonne mit Gold umsäumt. Gret¬ chen schaute, wie sie über den dunkelen Dächern am blauen Himmel langsam hinzogen und im Ziehen Ge¬ stalt und Farbe wechselten. Da zog ein Schwan, bald eine Rose, ein Schloß, bald Engelsflügel, bald gar eines Engels Angesicht. Sie dachte an ihre Eltern, an ihre Brüderlein, deren sie sich noch ganz leise aus frühester Jugend erinnern konnte, und mit sehnsuchts¬ vollem Herzen sang sie das Lied, das Benjamin an das Fenster lockte.
Benjamin kam mit der großen Bilderbibel herun¬ ter, schwang sich unten an der Scheuer und am al¬ ten Hollunderstamm noch ganz rüstig über das Stacket, und war nun in Bendlers Garten. Da trat Fritz aus der Laube, er wollte nicht schuldiger Weise den Horcher spielen. Gretchen erschrak, denn er hatte sie ja auf dem Baume gesehen und hatte sie singen hören; er aber reichte ihr freundlich die Hand über das Stak¬ tet hinüber. Das war nun Gretchen mit dem blon¬ den Haar, den Sommerflecken, den runden braunen Augen und dem runden rothen Mund. Sie war nicht groß nicht klein, nicht schlank nicht stark, und stand mit dem braunen Kattunkleide und weißen Kragenstrich gar sittig vor ihm. Er sprach einige verlegene Worte des Willkommens, sie merkte seine Verlegenheit nicht, sie hörte kaum, was er sagte, so gewaltig schlug ihr Herz, aber einsam kam ihr die Welt nicht mehr vor; und als er fragte, ob er auch hinüber kommen dürfe, nickte sie ein freundliches Ja und machte einen höfli¬ chen Knix.
der Himmel war heute ſo licht, die Wolken daran von der ſinkenden Sonne mit Gold umſäumt. Gret¬ chen ſchaute, wie ſie über den dunkelen Dächern am blauen Himmel langſam hinzogen und im Ziehen Ge¬ ſtalt und Farbe wechſelten. Da zog ein Schwan, bald eine Roſe, ein Schloß, bald Engelsflügel, bald gar eines Engels Angeſicht. Sie dachte an ihre Eltern, an ihre Brüderlein, deren ſie ſich noch ganz leiſe aus früheſter Jugend erinnern konnte, und mit ſehnſuchts¬ vollem Herzen ſang ſie das Lied, das Benjamin an das Fenſter lockte.
Benjamin kam mit der großen Bilderbibel herun¬ ter, ſchwang ſich unten an der Scheuer und am al¬ ten Hollunderſtamm noch ganz rüſtig über das Stacket, und war nun in Bendlers Garten. Da trat Fritz aus der Laube, er wollte nicht ſchuldiger Weiſe den Horcher ſpielen. Gretchen erſchrak, denn er hatte ſie ja auf dem Baume geſehen und hatte ſie ſingen hören; er aber reichte ihr freundlich die Hand über das Stak¬ tet hinüber. Das war nun Gretchen mit dem blon¬ den Haar, den Sommerflecken, den runden braunen Augen und dem runden rothen Mund. Sie war nicht groß nicht klein, nicht ſchlank nicht ſtark, und ſtand mit dem braunen Kattunkleide und weißen Kragenſtrich gar ſittig vor ihm. Er ſprach einige verlegene Worte des Willkommens, ſie merkte ſeine Verlegenheit nicht, ſie hörte kaum, was er ſagte, ſo gewaltig ſchlug ihr Herz, aber einſam kam ihr die Welt nicht mehr vor; und als er fragte, ob er auch hinüber kommen dürfe, nickte ſie ein freundliches Ja und machte einen höfli¬ chen Knix.
<TEI><text><body><p><pbfacs="#f0033"n="27"/>
der Himmel war heute ſo licht, die Wolken daran<lb/>
von der ſinkenden Sonne mit Gold umſäumt. Gret¬<lb/>
chen ſchaute, wie ſie über den dunkelen Dächern am<lb/>
blauen Himmel langſam hinzogen und im Ziehen Ge¬<lb/>ſtalt und Farbe wechſelten. Da zog ein Schwan, bald<lb/>
eine Roſe, ein Schloß, bald Engelsflügel, bald gar<lb/>
eines Engels Angeſicht. Sie dachte an ihre Eltern,<lb/>
an ihre Brüderlein, deren ſie ſich noch ganz leiſe aus<lb/>
früheſter Jugend erinnern konnte, und mit ſehnſuchts¬<lb/>
vollem Herzen ſang ſie das Lied, das Benjamin an<lb/>
das Fenſter lockte.</p><lb/><p>Benjamin kam mit der großen Bilderbibel herun¬<lb/>
ter, ſchwang ſich unten an der Scheuer und am al¬<lb/>
ten Hollunderſtamm noch ganz rüſtig über das Stacket,<lb/>
und war nun in Bendlers Garten. Da trat Fritz<lb/>
aus der Laube, er wollte nicht ſchuldiger Weiſe den<lb/>
Horcher ſpielen. Gretchen erſchrak, denn er hatte ſie<lb/>
ja auf dem Baume geſehen und hatte ſie ſingen hören;<lb/>
er aber reichte ihr freundlich die Hand über das Stak¬<lb/>
tet hinüber. Das war nun Gretchen mit dem blon¬<lb/>
den Haar, den Sommerflecken, den runden braunen<lb/>
Augen und dem runden rothen Mund. Sie war nicht<lb/>
groß nicht klein, nicht ſchlank nicht ſtark, und ſtand<lb/>
mit dem braunen Kattunkleide und weißen Kragenſtrich<lb/>
gar ſittig vor ihm. Er ſprach einige verlegene Worte<lb/>
des Willkommens, ſie merkte ſeine Verlegenheit nicht,<lb/>ſie hörte kaum, was er ſagte, ſo gewaltig ſchlug ihr<lb/>
Herz, aber einſam kam ihr die Welt nicht mehr vor;<lb/>
und als er fragte, ob er auch hinüber kommen dürfe,<lb/>
nickte ſie ein freundliches Ja und machte einen höfli¬<lb/>
chen Knix.<lb/></p></body></text></TEI>
[27/0033]
der Himmel war heute ſo licht, die Wolken daran
von der ſinkenden Sonne mit Gold umſäumt. Gret¬
chen ſchaute, wie ſie über den dunkelen Dächern am
blauen Himmel langſam hinzogen und im Ziehen Ge¬
ſtalt und Farbe wechſelten. Da zog ein Schwan, bald
eine Roſe, ein Schloß, bald Engelsflügel, bald gar
eines Engels Angeſicht. Sie dachte an ihre Eltern,
an ihre Brüderlein, deren ſie ſich noch ganz leiſe aus
früheſter Jugend erinnern konnte, und mit ſehnſuchts¬
vollem Herzen ſang ſie das Lied, das Benjamin an
das Fenſter lockte.
Benjamin kam mit der großen Bilderbibel herun¬
ter, ſchwang ſich unten an der Scheuer und am al¬
ten Hollunderſtamm noch ganz rüſtig über das Stacket,
und war nun in Bendlers Garten. Da trat Fritz
aus der Laube, er wollte nicht ſchuldiger Weiſe den
Horcher ſpielen. Gretchen erſchrak, denn er hatte ſie
ja auf dem Baume geſehen und hatte ſie ſingen hören;
er aber reichte ihr freundlich die Hand über das Stak¬
tet hinüber. Das war nun Gretchen mit dem blon¬
den Haar, den Sommerflecken, den runden braunen
Augen und dem runden rothen Mund. Sie war nicht
groß nicht klein, nicht ſchlank nicht ſtark, und ſtand
mit dem braunen Kattunkleide und weißen Kragenſtrich
gar ſittig vor ihm. Er ſprach einige verlegene Worte
des Willkommens, ſie merkte ſeine Verlegenheit nicht,
ſie hörte kaum, was er ſagte, ſo gewaltig ſchlug ihr
Herz, aber einſam kam ihr die Welt nicht mehr vor;
und als er fragte, ob er auch hinüber kommen dürfe,
nickte ſie ein freundliches Ja und machte einen höfli¬
chen Knix.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Nathusius, Marie: Die Kammerjungfer. Eine Stadtgeschichte. Halle (Saale), 1851, S. 27. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nathusius_kammerjungfer_1851/33>, abgerufen am 16.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.