Nathusius, Marie: Die Kammerjungfer. Eine Stadtgeschichte. Halle (Saale), 1851.lich angesehen, er hatte dabei gedacht: wenn erst Will ich nicht, so muß ich weinen, Wenn ich mir es recht betracht,Weil verlassen mich die Meinen, G'nommen eine gute Nacht. Ach, wo ist mein Vater und Mutter? Ach, sie liegen schon im Grab. Ach, wo sind mein' Brüder und Schwestern? Keinen Freund ich nirgends hab. lich angeſehen, er hatte dabei gedacht: wenn erſt Will ich nicht, ſo muß ich weinen, Wenn ich mir es recht betracht,Weil verlaſſen mich die Meinen, G'nommen eine gute Nacht. Ach, wo iſt mein Vater und Mutter? Ach, ſie liegen ſchon im Grab. Ach, wo ſind mein' Brüder und Schweſtern? Keinen Freund ich nirgends hab. <TEI> <text> <body> <p><pb facs="#f0029" n="23"/> lich angeſehen, er hatte dabei gedacht: wenn erſt<lb/> Frauenhände hier walten, werdet ihr noch ſchöner blü¬<lb/> hen. Die düſtere Weinlaube erſchien ihm gar nicht<lb/> düſter, er dachte: bald wirſt du nicht mehr allein<lb/> hier ſitzen. Heut war ihm Alles wüſt und leer, und<lb/> es lag ihm auch gar nichts daran, daß es anders ſei.<lb/> Er ſchaute durch die Weinranken hindurch zum blauen<lb/> Himmel hinauf. Lieber himmliſcher Vater, es wird<lb/> ja wieder anders werden; jetzt aber erſcheint das Kreuz<lb/> meinem jungen Herzen ſchwer, und nun bitte ich Dich<lb/> doch wieder und immer wieder: erlöſe ſie vom Uebel;<lb/> wenn ich ſie auch für mich aufgeben muß, laß Du<lb/> ſie nicht. Aufgeben? ja das iſt wohl ſchwer, und<lb/> daß es ihm ſo ſchwer ward, ward ihm auch zum<lb/> Troſt, denn wenn es ſeinem ſchwachen, menſchlichen<lb/> Herzen ſo ſchwer ward, mußte es ja dem Erlöſer<lb/> droben noch ſchwerer werden, eine geliebte Seele auf¬<lb/> zugeben; und je tiefer er in den blauen Himmel ſchaute,<lb/> je zuverſichtlicher warb es ihm, und ſein Schmerz lö¬<lb/> ſete ſich in feuchten Augen auf. Da hörte er plötz¬<lb/> lich eine Stimme im Nachbarsgarten ſingen; hell<lb/> und lieblich, und doch weich und wehmüthig dran¬<lb/> gen die Töne, und ganz deutlich die Worte zu ihm<lb/> herüber:</p><lb/> <lg type="poem"> <lg n="1"> <l rendition="#et">Will ich nicht, ſo muß ich weinen,</l><lb/> <l>Wenn ich mir es recht betracht,</l><lb/> <l>Weil verlaſſen mich die Meinen,</l><lb/> <l>G'nommen eine gute Nacht.</l><lb/> <l>Ach, wo iſt mein Vater und Mutter?</l><lb/> <l>Ach, ſie liegen ſchon im Grab.</l><lb/> <l>Ach, wo ſind mein' Brüder und Schweſtern?</l><lb/> <l>Keinen Freund ich nirgends hab.</l><lb/> </lg> </lg> </body> </text> </TEI> [23/0029]
lich angeſehen, er hatte dabei gedacht: wenn erſt
Frauenhände hier walten, werdet ihr noch ſchöner blü¬
hen. Die düſtere Weinlaube erſchien ihm gar nicht
düſter, er dachte: bald wirſt du nicht mehr allein
hier ſitzen. Heut war ihm Alles wüſt und leer, und
es lag ihm auch gar nichts daran, daß es anders ſei.
Er ſchaute durch die Weinranken hindurch zum blauen
Himmel hinauf. Lieber himmliſcher Vater, es wird
ja wieder anders werden; jetzt aber erſcheint das Kreuz
meinem jungen Herzen ſchwer, und nun bitte ich Dich
doch wieder und immer wieder: erlöſe ſie vom Uebel;
wenn ich ſie auch für mich aufgeben muß, laß Du
ſie nicht. Aufgeben? ja das iſt wohl ſchwer, und
daß es ihm ſo ſchwer ward, ward ihm auch zum
Troſt, denn wenn es ſeinem ſchwachen, menſchlichen
Herzen ſo ſchwer ward, mußte es ja dem Erlöſer
droben noch ſchwerer werden, eine geliebte Seele auf¬
zugeben; und je tiefer er in den blauen Himmel ſchaute,
je zuverſichtlicher warb es ihm, und ſein Schmerz lö¬
ſete ſich in feuchten Augen auf. Da hörte er plötz¬
lich eine Stimme im Nachbarsgarten ſingen; hell
und lieblich, und doch weich und wehmüthig dran¬
gen die Töne, und ganz deutlich die Worte zu ihm
herüber:
Will ich nicht, ſo muß ich weinen,
Wenn ich mir es recht betracht,
Weil verlaſſen mich die Meinen,
G'nommen eine gute Nacht.
Ach, wo iſt mein Vater und Mutter?
Ach, ſie liegen ſchon im Grab.
Ach, wo ſind mein' Brüder und Schweſtern?
Keinen Freund ich nirgends hab.
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