Daß sie, als sie wieder zum Nähen ausging, Gretchen der Pflege ihrer Mutter überlassen mußte, wurde ihr sehr schwer; doch die dreißig Thaler waren zu Ende, und die Tante und alle vernünftigen Men¬ schen erwarteten, daß sie ihre hergestellten Kräfte zur Arbeit benutzen würde. Es wurde ihr nicht schwer, sich einen Wirkungskreis zu verschaffen: ja bald ward er so groß, daß sie nicht allen Anforderungen genügen konnte. Frau Krauter war sehr glücklich darüber; zwar reichte das Geld gerade nur von der Hand in den Mund, sie war aber gewohnt, nicht weiter zu denken. Klärchens Tage gingen einförmig hin: in der Woche nähte sie in den Häusern, jeden Sonntag ging sie in die Stephani-Kirche, die Feierstunden, die ihr blieben, widmete sie der Pflege ihres Kindes. Von einer Sorge, die auf ihrem Herzen ruhte, der Schei¬ dung von ihrem Manne, hatte sie der Herr selbst be¬ freit. Das Schiff, auf welchem Günther sich einge¬ schifft, war im Kanal gescheitert, und er selbst hatte den Tod und das Ende seiner Pläne in den Wellen gefunden. So hätte sie sich in ihrem Stillleben un¬ gestört und mit jedem Tage glücklicher fühlen können, wenn nur ihr Kind frisch und gesund gewesen; aber die bange Sorge saß ihr wie ein Stachel im Herzen, und ihr Glaube war noch zu jung und schwach, um willig ihr Liebstes zu opfern und wie Abraham zu ru¬ fen: Herr, hier bin ich.
Es war am ersten Adventssonntag. Klärchen war früh in der Kirche gewesen und noch erfüllt von der herrlichen Predigt, erquickte sie sich an der sonntägli¬ chen Ruhe. Ihre Mutter war zu Tante Ricke gegan¬
Daß ſie, als ſie wieder zum Nähen ausging, Gretchen der Pflege ihrer Mutter überlaſſen mußte, wurde ihr ſehr ſchwer; doch die dreißig Thaler waren zu Ende, und die Tante und alle vernünftigen Men¬ ſchen erwarteten, daß ſie ihre hergeſtellten Kräfte zur Arbeit benutzen würde. Es wurde ihr nicht ſchwer, ſich einen Wirkungskreis zu verſchaffen: ja bald ward er ſo groß, daß ſie nicht allen Anforderungen genügen konnte. Frau Krauter war ſehr glücklich darüber; zwar reichte das Geld gerade nur von der Hand in den Mund, ſie war aber gewohnt, nicht weiter zu denken. Klärchens Tage gingen einförmig hin: in der Woche nähte ſie in den Häuſern, jeden Sonntag ging ſie in die Stephani-Kirche, die Feierſtunden, die ihr blieben, widmete ſie der Pflege ihres Kindes. Von einer Sorge, die auf ihrem Herzen ruhte, der Schei¬ dung von ihrem Manne, hatte ſie der Herr ſelbſt be¬ freit. Das Schiff, auf welchem Günther ſich einge¬ ſchifft, war im Kanal geſcheitert, und er ſelbſt hatte den Tod und das Ende ſeiner Pläne in den Wellen gefunden. So hätte ſie ſich in ihrem Stillleben un¬ geſtört und mit jedem Tage glücklicher fühlen können, wenn nur ihr Kind friſch und geſund geweſen; aber die bange Sorge ſaß ihr wie ein Stachel im Herzen, und ihr Glaube war noch zu jung und ſchwach, um willig ihr Liebſtes zu opfern und wie Abraham zu ru¬ fen: Herr, hier bin ich.
Es war am erſten Adventsſonntag. Klärchen war früh in der Kirche geweſen und noch erfüllt von der herrlichen Predigt, erquickte ſie ſich an der ſonntägli¬ chen Ruhe. Ihre Mutter war zu Tante Ricke gegan¬
<TEI><text><body><pbfacs="#f0138"n="132"/><p>Daß ſie, als ſie wieder zum Nähen ausging,<lb/>
Gretchen der Pflege ihrer Mutter überlaſſen mußte,<lb/>
wurde ihr ſehr ſchwer; doch die dreißig Thaler waren<lb/>
zu Ende, und die Tante und alle vernünftigen Men¬<lb/>ſchen erwarteten, daß ſie ihre hergeſtellten Kräfte zur<lb/>
Arbeit benutzen würde. Es wurde ihr nicht ſchwer,<lb/>ſich einen Wirkungskreis zu verſchaffen: ja bald ward<lb/>
er ſo groß, daß ſie nicht allen Anforderungen genügen<lb/>
konnte. Frau Krauter war ſehr glücklich darüber;<lb/>
zwar reichte das Geld gerade nur von der Hand in<lb/>
den Mund, ſie war aber gewohnt, nicht weiter zu<lb/>
denken. Klärchens Tage gingen einförmig hin: in der<lb/>
Woche nähte ſie in den Häuſern, jeden Sonntag ging<lb/>ſie in die Stephani-Kirche, die Feierſtunden, die ihr<lb/>
blieben, widmete ſie der Pflege ihres Kindes. Von<lb/><hirendition="#g">einer</hi> Sorge, die auf ihrem Herzen ruhte, der Schei¬<lb/>
dung von ihrem Manne, hatte ſie der Herr ſelbſt be¬<lb/>
freit. Das Schiff, auf welchem Günther ſich einge¬<lb/>ſchifft, war im Kanal geſcheitert, und er ſelbſt hatte<lb/>
den Tod und das Ende ſeiner Pläne in den Wellen<lb/>
gefunden. So hätte ſie ſich in ihrem Stillleben un¬<lb/>
geſtört und mit jedem Tage glücklicher fühlen können,<lb/>
wenn nur ihr Kind friſch und geſund geweſen; aber<lb/>
die bange Sorge ſaß ihr wie ein Stachel im Herzen,<lb/>
und ihr Glaube war noch zu jung und ſchwach, um<lb/>
willig ihr Liebſtes zu opfern und wie Abraham zu ru¬<lb/>
fen: Herr, hier bin ich.</p><lb/><p>Es war am erſten Adventsſonntag. Klärchen war<lb/>
früh in der Kirche geweſen und noch erfüllt von der<lb/>
herrlichen Predigt, erquickte ſie ſich an der ſonntägli¬<lb/>
chen Ruhe. Ihre Mutter war zu Tante Ricke gegan¬<lb/></p></body></text></TEI>
[132/0138]
Daß ſie, als ſie wieder zum Nähen ausging,
Gretchen der Pflege ihrer Mutter überlaſſen mußte,
wurde ihr ſehr ſchwer; doch die dreißig Thaler waren
zu Ende, und die Tante und alle vernünftigen Men¬
ſchen erwarteten, daß ſie ihre hergeſtellten Kräfte zur
Arbeit benutzen würde. Es wurde ihr nicht ſchwer,
ſich einen Wirkungskreis zu verſchaffen: ja bald ward
er ſo groß, daß ſie nicht allen Anforderungen genügen
konnte. Frau Krauter war ſehr glücklich darüber;
zwar reichte das Geld gerade nur von der Hand in
den Mund, ſie war aber gewohnt, nicht weiter zu
denken. Klärchens Tage gingen einförmig hin: in der
Woche nähte ſie in den Häuſern, jeden Sonntag ging
ſie in die Stephani-Kirche, die Feierſtunden, die ihr
blieben, widmete ſie der Pflege ihres Kindes. Von
einer Sorge, die auf ihrem Herzen ruhte, der Schei¬
dung von ihrem Manne, hatte ſie der Herr ſelbſt be¬
freit. Das Schiff, auf welchem Günther ſich einge¬
ſchifft, war im Kanal geſcheitert, und er ſelbſt hatte
den Tod und das Ende ſeiner Pläne in den Wellen
gefunden. So hätte ſie ſich in ihrem Stillleben un¬
geſtört und mit jedem Tage glücklicher fühlen können,
wenn nur ihr Kind friſch und geſund geweſen; aber
die bange Sorge ſaß ihr wie ein Stachel im Herzen,
und ihr Glaube war noch zu jung und ſchwach, um
willig ihr Liebſtes zu opfern und wie Abraham zu ru¬
fen: Herr, hier bin ich.
Es war am erſten Adventsſonntag. Klärchen war
früh in der Kirche geweſen und noch erfüllt von der
herrlichen Predigt, erquickte ſie ſich an der ſonntägli¬
chen Ruhe. Ihre Mutter war zu Tante Ricke gegan¬
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Nathusius, Marie: Die Kammerjungfer. Eine Stadtgeschichte. Halle (Saale), 1851, S. 132. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nathusius_kammerjungfer_1851/138>, abgerufen am 15.08.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.