Nathusius, Marie: Die Kammerjungfer. Eine Stadtgeschichte. Halle (Saale), 1851.Daß sie, als sie wieder zum Nähen ausging, Es war am ersten Adventssonntag. Klärchen war Daß ſie, als ſie wieder zum Nähen ausging, Es war am erſten Adventsſonntag. Klärchen war <TEI> <text> <body> <pb facs="#f0138" n="132"/> <p>Daß ſie, als ſie wieder zum Nähen ausging,<lb/> Gretchen der Pflege ihrer Mutter überlaſſen mußte,<lb/> wurde ihr ſehr ſchwer; doch die dreißig Thaler waren<lb/> zu Ende, und die Tante und alle vernünftigen Men¬<lb/> ſchen erwarteten, daß ſie ihre hergeſtellten Kräfte zur<lb/> Arbeit benutzen würde. Es wurde ihr nicht ſchwer,<lb/> ſich einen Wirkungskreis zu verſchaffen: ja bald ward<lb/> er ſo groß, daß ſie nicht allen Anforderungen genügen<lb/> konnte. Frau Krauter war ſehr glücklich darüber;<lb/> zwar reichte das Geld gerade nur von der Hand in<lb/> den Mund, ſie war aber gewohnt, nicht weiter zu<lb/> denken. Klärchens Tage gingen einförmig hin: in der<lb/> Woche nähte ſie in den Häuſern, jeden Sonntag ging<lb/> ſie in die Stephani-Kirche, die Feierſtunden, die ihr<lb/> blieben, widmete ſie der Pflege ihres Kindes. Von<lb/><hi rendition="#g">einer</hi> Sorge, die auf ihrem Herzen ruhte, der Schei¬<lb/> dung von ihrem Manne, hatte ſie der Herr ſelbſt be¬<lb/> freit. Das Schiff, auf welchem Günther ſich einge¬<lb/> ſchifft, war im Kanal geſcheitert, und er ſelbſt hatte<lb/> den Tod und das Ende ſeiner Pläne in den Wellen<lb/> gefunden. So hätte ſie ſich in ihrem Stillleben un¬<lb/> geſtört und mit jedem Tage glücklicher fühlen können,<lb/> wenn nur ihr Kind friſch und geſund geweſen; aber<lb/> die bange Sorge ſaß ihr wie ein Stachel im Herzen,<lb/> und ihr Glaube war noch zu jung und ſchwach, um<lb/> willig ihr Liebſtes zu opfern und wie Abraham zu ru¬<lb/> fen: Herr, hier bin ich.</p><lb/> <p>Es war am erſten Adventsſonntag. Klärchen war<lb/> früh in der Kirche geweſen und noch erfüllt von der<lb/> herrlichen Predigt, erquickte ſie ſich an der ſonntägli¬<lb/> chen Ruhe. Ihre Mutter war zu Tante Ricke gegan¬<lb/></p> </body> </text> </TEI> [132/0138]
Daß ſie, als ſie wieder zum Nähen ausging,
Gretchen der Pflege ihrer Mutter überlaſſen mußte,
wurde ihr ſehr ſchwer; doch die dreißig Thaler waren
zu Ende, und die Tante und alle vernünftigen Men¬
ſchen erwarteten, daß ſie ihre hergeſtellten Kräfte zur
Arbeit benutzen würde. Es wurde ihr nicht ſchwer,
ſich einen Wirkungskreis zu verſchaffen: ja bald ward
er ſo groß, daß ſie nicht allen Anforderungen genügen
konnte. Frau Krauter war ſehr glücklich darüber;
zwar reichte das Geld gerade nur von der Hand in
den Mund, ſie war aber gewohnt, nicht weiter zu
denken. Klärchens Tage gingen einförmig hin: in der
Woche nähte ſie in den Häuſern, jeden Sonntag ging
ſie in die Stephani-Kirche, die Feierſtunden, die ihr
blieben, widmete ſie der Pflege ihres Kindes. Von
einer Sorge, die auf ihrem Herzen ruhte, der Schei¬
dung von ihrem Manne, hatte ſie der Herr ſelbſt be¬
freit. Das Schiff, auf welchem Günther ſich einge¬
ſchifft, war im Kanal geſcheitert, und er ſelbſt hatte
den Tod und das Ende ſeiner Pläne in den Wellen
gefunden. So hätte ſie ſich in ihrem Stillleben un¬
geſtört und mit jedem Tage glücklicher fühlen können,
wenn nur ihr Kind friſch und geſund geweſen; aber
die bange Sorge ſaß ihr wie ein Stachel im Herzen,
und ihr Glaube war noch zu jung und ſchwach, um
willig ihr Liebſtes zu opfern und wie Abraham zu ru¬
fen: Herr, hier bin ich.
Es war am erſten Adventsſonntag. Klärchen war
früh in der Kirche geweſen und noch erfüllt von der
herrlichen Predigt, erquickte ſie ſich an der ſonntägli¬
chen Ruhe. Ihre Mutter war zu Tante Ricke gegan¬
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