fühlte, daß Günther einem Abgrund entgegen ging, in den er sie mit hinein ziehen würde. Angst in der Gegenwart, Furcht vor der Zukunft trieb sie Hülfe zu suchen, und da sie recht gut wußte, daß ihr Men¬ schen nicht helfen konnten, wollte sie es mit dem Him¬ mel versuchen. Die Predigt heut machte ihr neuen Muth dazu, und der Prediger, der so mild und lieb¬ reich geredet, hatte ihr ganzes Herz gewonnen; ihm näher zu kommen und sich ihm anzuvertrauen, war ihr höchster Wunsch. Menschen wußte sie außerdem nicht, die ihr hätten rathen können; der Tante Rieke ernste Reden und Ermahnungen hatte sie stets mit Gleichgültigkeit, Widerspruch und Lachen aufgenom¬ men; der ihr Unglück aufzudecken und ihr Unrecht zu gestehen, fühlte sie eine unüberwindliche Scheu.
Als der letzte Vers gesungen war, leerte sich die volle Kirche, nur im Chor sammelte sich eine kleinere Anzahl, um das Brautpaar trauen zu sehen. Auch Klärchen trat hinzu, aufrichtige Theilnahme an Gret¬ chens Schicksal veranlaßte sie dazu. Freilich kamen ihrem Herzen gar sonderbare Gedanken. Wo Gret¬ chen steht, könntest du auch stehen, und was ist das für ein Mann! Sie hatte ihn immer schon bewun¬ dert und zu gut gefunden für Gretchen, aber in ihrer eignen Thorheit war sie verblendet und hatte seines Herzens Sprache mit Verachtung erwidert. Jetzt stand er da, so schön und männlich, mit so mildem, liebe¬ vollem Ausdruck. Klärchen traten die Thränen in die Augen und ihr Herz war so bewegt. Als der Predi¬ ger die Versammlung aufforderte, für das junge Paar mit zu beten, faltete sie die Hände und brachte zum
fühlte, daß Günther einem Abgrund entgegen ging, in den er ſie mit hinein ziehen würde. Angſt in der Gegenwart, Furcht vor der Zukunft trieb ſie Hülfe zu ſuchen, und da ſie recht gut wußte, daß ihr Men¬ ſchen nicht helfen konnten, wollte ſie es mit dem Him¬ mel verſuchen. Die Predigt heut machte ihr neuen Muth dazu, und der Prediger, der ſo mild und lieb¬ reich geredet, hatte ihr ganzes Herz gewonnen; ihm näher zu kommen und ſich ihm anzuvertrauen, war ihr höchſter Wunſch. Menſchen wußte ſie außerdem nicht, die ihr hätten rathen können; der Tante Rieke ernſte Reden und Ermahnungen hatte ſie ſtets mit Gleichgültigkeit, Widerſpruch und Lachen aufgenom¬ men; der ihr Unglück aufzudecken und ihr Unrecht zu geſtehen, fühlte ſie eine unüberwindliche Scheu.
Als der letzte Vers geſungen war, leerte ſich die volle Kirche, nur im Chor ſammelte ſich eine kleinere Anzahl, um das Brautpaar trauen zu ſehen. Auch Klärchen trat hinzu, aufrichtige Theilnahme an Gret¬ chens Schickſal veranlaßte ſie dazu. Freilich kamen ihrem Herzen gar ſonderbare Gedanken. Wo Gret¬ chen ſteht, könnteſt du auch ſtehen, und was iſt das für ein Mann! Sie hatte ihn immer ſchon bewun¬ dert und zu gut gefunden für Gretchen, aber in ihrer eignen Thorheit war ſie verblendet und hatte ſeines Herzens Sprache mit Verachtung erwidert. Jetzt ſtand er da, ſo ſchön und männlich, mit ſo mildem, liebe¬ vollem Ausdruck. Klärchen traten die Thränen in die Augen und ihr Herz war ſo bewegt. Als der Predi¬ ger die Verſammlung aufforderte, für das junge Paar mit zu beten, faltete ſie die Hände und brachte zum
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fühlte, daß Günther einem Abgrund entgegen ging,
in den er ſie mit hinein ziehen würde. Angſt in der
Gegenwart, Furcht vor der Zukunft trieb ſie Hülfe
zu ſuchen, und da ſie recht gut wußte, daß ihr Men¬
ſchen nicht helfen konnten, wollte ſie es mit dem Him¬
mel verſuchen. Die Predigt heut machte ihr neuen
Muth dazu, und der Prediger, der ſo mild und lieb¬
reich geredet, hatte ihr ganzes Herz gewonnen; ihm
näher zu kommen und ſich ihm anzuvertrauen, war
ihr höchſter Wunſch. Menſchen wußte ſie außerdem
nicht, die ihr hätten rathen können; der Tante Rieke
ernſte Reden und Ermahnungen hatte ſie ſtets mit
Gleichgültigkeit, Widerſpruch und Lachen aufgenom¬
men; der ihr Unglück aufzudecken und ihr Unrecht zu
geſtehen, fühlte ſie eine unüberwindliche Scheu.
Als der letzte Vers geſungen war, leerte ſich die
volle Kirche, nur im Chor ſammelte ſich eine kleinere
Anzahl, um das Brautpaar trauen zu ſehen. Auch
Klärchen trat hinzu, aufrichtige Theilnahme an Gret¬
chens Schickſal veranlaßte ſie dazu. Freilich kamen
ihrem Herzen gar ſonderbare Gedanken. Wo Gret¬
chen ſteht, könnteſt du auch ſtehen, und was iſt das
für ein Mann! Sie hatte ihn immer ſchon bewun¬
dert und zu gut gefunden für Gretchen, aber in ihrer
eignen Thorheit war ſie verblendet und hatte ſeines
Herzens Sprache mit Verachtung erwidert. Jetzt ſtand
er da, ſo ſchön und männlich, mit ſo mildem, liebe¬
vollem Ausdruck. Klärchen traten die Thränen in die
Augen und ihr Herz war ſo bewegt. Als der Predi¬
ger die Verſammlung aufforderte, für das junge Paar
mit zu beten, faltete ſie die Hände und brachte zum
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Nathusius, Marie: Die Kammerjungfer. Eine Stadtgeschichte. Halle (Saale), 1851, S. 118. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nathusius_kammerjungfer_1851/124>, abgerufen am 15.08.2024.
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