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Nathusius, Marie: Die Kammerjungfer. Eine Stadtgeschichte. Halle (Saale), 1851.

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Weihnachten kam, und Günther schien es darauf
abgesehen zu haben, Klärchens leicht bewegliches Herz
wieder ganz zu gewinnen. Der Weihnachtstisch prangte
von schönen Sachen. Ein seidener Mantel, ein Sam¬
methut, wie ihn nur die vornehmste Dame wünschen
konnte, lagen darauf, und außer andern Kleinigkeiten
auch ein Zwanzig-Thaler-Schein, um Kinderwäsche
zu kaufen. Klärchen war guter Hoffnung. Auch Frau
Krauter hatte Günther mit manchen hübschen Sachen
bedacht, -- so gab es nur fröhliche Gesichter.

Am Weihnachtsmorgen mußte Klärchen in die
Kirche gehen, um ihren Staat zu zeigen. Dieser
Triumph sollte nach den vielen trüben Tagen eine Er¬
quickung sein. Aber hauptsächlich lag ihr daran, sich
der Tante und Gretchen zu zeigen. Die hatten gegen
die Mutter so manche bedenkliche Worte, auch wegen
ihrer äußeren Lage, fallen lassen; darüber sollten sie
beruhigt werden. Sie mußte freilich zu dem Pietisten
in die Stephani-Kirche gehen, aber das war ihr
gleich; des Wortes Gottes wegen ging sie doch nicht
hin. Ja, in der letzten Zeit hatte sie sich noch mehr
als je gescheut, an den Herrn zu denken; es überfiel
sie zuweilen eine Ahnung, als ob die Worte der Tante
Wahrheit werden und der Himmel ihren Leichtsinn
strafen könnte. Heute war sie aber zu vergnügt, um
so ernste Gedanken haben zu können.

Sie hatte eigentlich die Absicht gehabt, sich so in
der Kirche zu sehen, daß sie von allen Seiten gesehen
ward, aber im Hineintreten gewann ihr besseres Ge¬
fühl die Oberhand, sie schämte sich und setzte sich in
eine entfernte Ecke. Als nun die Orgel in vollen

Weihnachten kam, und Günther ſchien es darauf
abgeſehen zu haben, Klärchens leicht bewegliches Herz
wieder ganz zu gewinnen. Der Weihnachtstiſch prangte
von ſchönen Sachen. Ein ſeidener Mantel, ein Sam¬
methut, wie ihn nur die vornehmſte Dame wünſchen
konnte, lagen darauf, und außer andern Kleinigkeiten
auch ein Zwanzig-Thaler-Schein, um Kinderwäſche
zu kaufen. Klärchen war guter Hoffnung. Auch Frau
Krauter hatte Günther mit manchen hübſchen Sachen
bedacht, — ſo gab es nur fröhliche Geſichter.

Am Weihnachtsmorgen mußte Klärchen in die
Kirche gehen, um ihren Staat zu zeigen. Dieſer
Triumph ſollte nach den vielen trüben Tagen eine Er¬
quickung ſein. Aber hauptſächlich lag ihr daran, ſich
der Tante und Gretchen zu zeigen. Die hatten gegen
die Mutter ſo manche bedenkliche Worte, auch wegen
ihrer äußeren Lage, fallen laſſen; darüber ſollten ſie
beruhigt werden. Sie mußte freilich zu dem Pietiſten
in die Stephani-Kirche gehen, aber das war ihr
gleich; des Wortes Gottes wegen ging ſie doch nicht
hin. Ja, in der letzten Zeit hatte ſie ſich noch mehr
als je geſcheut, an den Herrn zu denken; es überfiel
ſie zuweilen eine Ahnung, als ob die Worte der Tante
Wahrheit werden und der Himmel ihren Leichtſinn
ſtrafen könnte. Heute war ſie aber zu vergnügt, um
ſo ernſte Gedanken haben zu können.

Sie hatte eigentlich die Abſicht gehabt, ſich ſo in
der Kirche zu ſehen, daß ſie von allen Seiten geſehen
ward, aber im Hineintreten gewann ihr beſſeres Ge¬
fühl die Oberhand, ſie ſchämte ſich und ſetzte ſich in
eine entfernte Ecke. Als nun die Orgel in vollen

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[104/0110] Weihnachten kam, und Günther ſchien es darauf abgeſehen zu haben, Klärchens leicht bewegliches Herz wieder ganz zu gewinnen. Der Weihnachtstiſch prangte von ſchönen Sachen. Ein ſeidener Mantel, ein Sam¬ methut, wie ihn nur die vornehmſte Dame wünſchen konnte, lagen darauf, und außer andern Kleinigkeiten auch ein Zwanzig-Thaler-Schein, um Kinderwäſche zu kaufen. Klärchen war guter Hoffnung. Auch Frau Krauter hatte Günther mit manchen hübſchen Sachen bedacht, — ſo gab es nur fröhliche Geſichter. Am Weihnachtsmorgen mußte Klärchen in die Kirche gehen, um ihren Staat zu zeigen. Dieſer Triumph ſollte nach den vielen trüben Tagen eine Er¬ quickung ſein. Aber hauptſächlich lag ihr daran, ſich der Tante und Gretchen zu zeigen. Die hatten gegen die Mutter ſo manche bedenkliche Worte, auch wegen ihrer äußeren Lage, fallen laſſen; darüber ſollten ſie beruhigt werden. Sie mußte freilich zu dem Pietiſten in die Stephani-Kirche gehen, aber das war ihr gleich; des Wortes Gottes wegen ging ſie doch nicht hin. Ja, in der letzten Zeit hatte ſie ſich noch mehr als je geſcheut, an den Herrn zu denken; es überfiel ſie zuweilen eine Ahnung, als ob die Worte der Tante Wahrheit werden und der Himmel ihren Leichtſinn ſtrafen könnte. Heute war ſie aber zu vergnügt, um ſo ernſte Gedanken haben zu können. Sie hatte eigentlich die Abſicht gehabt, ſich ſo in der Kirche zu ſehen, daß ſie von allen Seiten geſehen ward, aber im Hineintreten gewann ihr beſſeres Ge¬ fühl die Oberhand, ſie ſchämte ſich und ſetzte ſich in eine entfernte Ecke. Als nun die Orgel in vollen

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Zitationshilfe: Nathusius, Marie: Die Kammerjungfer. Eine Stadtgeschichte. Halle (Saale), 1851, S. 104. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nathusius_kammerjungfer_1851/110>, abgerufen am 23.11.2024.