Ritter war während derselben, wie er über Tische oft pflegte, sanft eingeschlafen, und der Justiziarius war verstummt. Der rich- terliche Scharfblick, den der iunge Herr von ihm forderte, bedünkte ihm ein ganz fremdes Requisitum eines Richters zu seyn, davon ihm sein Lebtag noch nichts zu Ohren kommen war: denn außer der scharfen Fra- ge und einem scharfen Messer, kennt' er nichts scharfes in rerum natura: Scharf- sinn und Scharfblick waren also für ihn un- bekannte Länder.
Ungeachtet der notorischen Freydenkerey und ihres scheinbaren Unwillens dagegen, liebte die fromme Mutter ihren Theodor dennoch unermeßlich, und bereute es keines- weges, dieses Weltkind neun Monden lang unter dem Herzen getragen zu haben; daher wurd' er nach einigen Erläuterungen über die physiognomische Herzenskunde, bald wieder von ihr in die rechtglaubige Kirche
aufge-
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Ritter war waͤhrend derſelben, wie er uͤber Tiſche oft pflegte, ſanft eingeſchlafen, und der Juſtiziarius war verſtummt. Der rich- terliche Scharfblick, den der iunge Herr von ihm forderte, beduͤnkte ihm ein ganz fremdes Requiſitum eines Richters zu ſeyn, davon ihm ſein Lebtag noch nichts zu Ohren kommen war: denn außer der ſcharfen Fra- ge und einem ſcharfen Meſſer, kennt’ er nichts ſcharfes in rerum natura: Scharf- ſinn und Scharfblick waren alſo fuͤr ihn un- bekannte Laͤnder.
Ungeachtet der notoriſchen Freydenkerey und ihres ſcheinbaren Unwillens dagegen, liebte die fromme Mutter ihren Theodor dennoch unermeßlich, und bereute es keines- weges, dieſes Weltkind neun Monden lang unter dem Herzen getragen zu haben; daher wurd’ er nach einigen Erlaͤuterungen uͤber die phyſiognomiſche Herzenskunde, bald wieder von ihr in die rechtglaubige Kirche
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Ritter war waͤhrend derſelben, wie er uͤber
Tiſche oft pflegte, ſanft eingeſchlafen, und
der Juſtiziarius war verſtummt. Der rich-
terliche Scharfblick, den der iunge Herr
von ihm forderte, beduͤnkte ihm ein ganz
fremdes Requiſitum eines Richters zu ſeyn,
davon ihm ſein Lebtag noch nichts zu Ohren
kommen war: denn außer der ſcharfen Fra-
ge und einem ſcharfen Meſſer, kennt’ er
nichts ſcharfes in rerum natura: Scharf-
ſinn und Scharfblick waren alſo fuͤr ihn un-
bekannte Laͤnder.
Ungeachtet der notoriſchen Freydenkerey
und ihres ſcheinbaren Unwillens dagegen,
liebte die fromme Mutter ihren Theodor
dennoch unermeßlich, und bereute es keines-
weges, dieſes Weltkind neun Monden lang
unter dem Herzen getragen zu haben; daher
wurd’ er nach einigen Erlaͤuterungen uͤber
die phyſiognomiſche Herzenskunde, bald
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Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 4. Altenburg, 1779, S. 25. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/musaeus_reisen04_1779/33>, abgerufen am 22.12.2024.
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