zueignen; wir sehen nun den innwendigen Menschen, durch seine äuserliche Gestalt so offenbar als in einem Spiegel, und diese Kunst ist ihm so gelungen, daß es bloß des Sehers Schuld ist, wenn er beym ersten Anblick eines Menschen nicht alle Geheim- nisse seines Herzens durchschauet.
So wenig Bedenken die gute Mutter fand, in die Vorrechte der Männer einen Eingriff zu thun, wenn sie männliche Bein- kleider anlegte, um schrittlings zu reuten: so gewissenhaft war sie in Absicht der Vor- rechte des Himmels, die wollte sie auf kei- ne Art gekränkt wissen. Der arme Theodor mußte seine leichtsinnigen Reden mit einer nachdrücklichen Gewissensrüge büssen, und wurde ungeachtet der Einwendung, daß der Herzenskündiger von dem die Rede war, ein würdiger gewissenhafter Geistlicher sey, für einen förmlichen Ketzer und Freydenker erkläret. Der Präses der Dispüte, der alte
Ritter
zueignen; wir ſehen nun den innwendigen Menſchen, durch ſeine aͤuſerliche Geſtalt ſo offenbar als in einem Spiegel, und dieſe Kunſt iſt ihm ſo gelungen, daß es bloß des Sehers Schuld iſt, wenn er beym erſten Anblick eines Menſchen nicht alle Geheim- niſſe ſeines Herzens durchſchauet.
So wenig Bedenken die gute Mutter fand, in die Vorrechte der Maͤnner einen Eingriff zu thun, wenn ſie maͤnnliche Bein- kleider anlegte, um ſchrittlings zu reuten: ſo gewiſſenhaft war ſie in Abſicht der Vor- rechte des Himmels, die wollte ſie auf kei- ne Art gekraͤnkt wiſſen. Der arme Theodor mußte ſeine leichtſinnigen Reden mit einer nachdruͤcklichen Gewiſſensruͤge buͤſſen, und wurde ungeachtet der Einwendung, daß der Herzenskuͤndiger von dem die Rede war, ein wuͤrdiger gewiſſenhafter Geiſtlicher ſey, fuͤr einen foͤrmlichen Ketzer und Freydenker erklaͤret. Der Praͤſes der Diſpuͤte, der alte
Ritter
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0032"n="24"/>
zueignen; wir ſehen nun den innwendigen<lb/>
Menſchen, durch ſeine aͤuſerliche Geſtalt ſo<lb/>
offenbar als in einem Spiegel, und dieſe<lb/>
Kunſt iſt ihm ſo gelungen, daß es bloß des<lb/>
Sehers Schuld iſt, wenn er beym erſten<lb/>
Anblick eines Menſchen nicht alle Geheim-<lb/>
niſſe ſeines Herzens durchſchauet.</p><lb/><p>So wenig Bedenken die gute Mutter<lb/>
fand, in die Vorrechte der Maͤnner einen<lb/>
Eingriff zu thun, wenn ſie maͤnnliche Bein-<lb/>
kleider anlegte, um ſchrittlings zu reuten:<lb/>ſo gewiſſenhaft war ſie in Abſicht der Vor-<lb/>
rechte des Himmels, die wollte ſie auf kei-<lb/>
ne Art gekraͤnkt wiſſen. Der arme Theodor<lb/>
mußte ſeine leichtſinnigen Reden mit einer<lb/>
nachdruͤcklichen Gewiſſensruͤge buͤſſen, und<lb/>
wurde ungeachtet der Einwendung, daß der<lb/>
Herzenskuͤndiger von dem die Rede war,<lb/>
ein wuͤrdiger gewiſſenhafter Geiſtlicher ſey,<lb/>
fuͤr einen foͤrmlichen Ketzer und Freydenker<lb/>
erklaͤret. Der Praͤſes der Diſpuͤte, der alte<lb/><fwplace="bottom"type="catch">Ritter</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[24/0032]
zueignen; wir ſehen nun den innwendigen
Menſchen, durch ſeine aͤuſerliche Geſtalt ſo
offenbar als in einem Spiegel, und dieſe
Kunſt iſt ihm ſo gelungen, daß es bloß des
Sehers Schuld iſt, wenn er beym erſten
Anblick eines Menſchen nicht alle Geheim-
niſſe ſeines Herzens durchſchauet.
So wenig Bedenken die gute Mutter
fand, in die Vorrechte der Maͤnner einen
Eingriff zu thun, wenn ſie maͤnnliche Bein-
kleider anlegte, um ſchrittlings zu reuten:
ſo gewiſſenhaft war ſie in Abſicht der Vor-
rechte des Himmels, die wollte ſie auf kei-
ne Art gekraͤnkt wiſſen. Der arme Theodor
mußte ſeine leichtſinnigen Reden mit einer
nachdruͤcklichen Gewiſſensruͤge buͤſſen, und
wurde ungeachtet der Einwendung, daß der
Herzenskuͤndiger von dem die Rede war,
ein wuͤrdiger gewiſſenhafter Geiſtlicher ſey,
fuͤr einen foͤrmlichen Ketzer und Freydenker
erklaͤret. Der Praͤſes der Diſpuͤte, der alte
Ritter
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 4. Altenburg, 1779, S. 24. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/musaeus_reisen04_1779/32>, abgerufen am 03.01.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.