Gab nun wieder meinen Gedanken Au- dienz, wie ich so einsam dahin trabt. Jch treibe Physiognomik, sprach ich, zu Be- förderung der Menschenliebe, gaffe iedem der mir begegnet ins Gesicht, spekulir und simulir ein langes und breites darüber, und ein andrer, der vielleicht nicht weiß daß eine Physiognomik existirt, übt unterdessen die Menschenliebe thätig aus. Bin ich nicht der stolze Pharisäer, der die Theorie des Guten vor sich herposaunen läßt, dahingegen der bessre Praktikus, der barmherzige Sa- mariter, Oel in die Wunden tröpfelt, ohne eines Studiums zu bedürfen, welches das Herz erst zur Menschenliebe ermuntere. Als uns die drey Bauerdirnen begegneten, dacht ich weiter nichts dabey als drey Alletagsge- sichter und ritt vorüber. Johannes Fischer aber beschaute nicht ihre Lineamenten, son- dern die schweren Bürden Holz auf ihren Rücken, und den tiefen kothigen Weg den
sie
Gab nun wieder meinen Gedanken Au- dienz, wie ich ſo einſam dahin trabt. Jch treibe Phyſiognomik, ſprach ich, zu Be- foͤrderung der Menſchenliebe, gaffe iedem der mir begegnet ins Geſicht, ſpekulir und ſimulir ein langes und breites daruͤber, und ein andrer, der vielleicht nicht weiß daß eine Phyſiognomik exiſtirt, uͤbt unterdeſſen die Menſchenliebe thaͤtig aus. Bin ich nicht der ſtolze Phariſaͤer, der die Theorie des Guten vor ſich herpoſaunen laͤßt, dahingegen der beſſre Praktikus, der barmherzige Sa- mariter, Oel in die Wunden troͤpfelt, ohne eines Studiums zu beduͤrfen, welches das Herz erſt zur Menſchenliebe ermuntere. Als uns die drey Bauerdirnen begegneten, dacht ich weiter nichts dabey als drey Alletagsge- ſichter und ritt voruͤber. Johannes Fiſcher aber beſchaute nicht ihre Lineamenten, ſon- dern die ſchweren Buͤrden Holz auf ihren Ruͤcken, und den tiefen kothigen Weg den
ſie
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0275"n="267"/><p>Gab nun wieder meinen Gedanken Au-<lb/>
dienz, wie ich ſo einſam dahin trabt. Jch<lb/>
treibe Phyſiognomik, ſprach ich, zu Be-<lb/>
foͤrderung der Menſchenliebe, gaffe iedem<lb/>
der mir begegnet ins Geſicht, ſpekulir und<lb/>ſimulir ein langes und breites daruͤber, und<lb/>
ein andrer, der vielleicht nicht weiß daß eine<lb/>
Phyſiognomik exiſtirt, uͤbt unterdeſſen die<lb/>
Menſchenliebe thaͤtig aus. Bin ich nicht<lb/>
der ſtolze Phariſaͤer, der die Theorie des<lb/>
Guten vor ſich herpoſaunen laͤßt, dahingegen<lb/>
der beſſre Praktikus, der barmherzige Sa-<lb/>
mariter, Oel in die Wunden troͤpfelt, ohne<lb/>
eines Studiums zu beduͤrfen, welches das<lb/>
Herz erſt zur Menſchenliebe ermuntere. Als<lb/>
uns die drey Bauerdirnen begegneten, dacht<lb/>
ich weiter nichts dabey als drey Alletagsge-<lb/>ſichter und ritt voruͤber. Johannes Fiſcher<lb/>
aber beſchaute nicht ihre Lineamenten, ſon-<lb/>
dern die ſchweren Buͤrden Holz auf ihren<lb/>
Ruͤcken, und den tiefen kothigen Weg den<lb/><fwplace="bottom"type="catch">ſie</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[267/0275]
Gab nun wieder meinen Gedanken Au-
dienz, wie ich ſo einſam dahin trabt. Jch
treibe Phyſiognomik, ſprach ich, zu Be-
foͤrderung der Menſchenliebe, gaffe iedem
der mir begegnet ins Geſicht, ſpekulir und
ſimulir ein langes und breites daruͤber, und
ein andrer, der vielleicht nicht weiß daß eine
Phyſiognomik exiſtirt, uͤbt unterdeſſen die
Menſchenliebe thaͤtig aus. Bin ich nicht
der ſtolze Phariſaͤer, der die Theorie des
Guten vor ſich herpoſaunen laͤßt, dahingegen
der beſſre Praktikus, der barmherzige Sa-
mariter, Oel in die Wunden troͤpfelt, ohne
eines Studiums zu beduͤrfen, welches das
Herz erſt zur Menſchenliebe ermuntere. Als
uns die drey Bauerdirnen begegneten, dacht
ich weiter nichts dabey als drey Alletagsge-
ſichter und ritt voruͤber. Johannes Fiſcher
aber beſchaute nicht ihre Lineamenten, ſon-
dern die ſchweren Buͤrden Holz auf ihren
Ruͤcken, und den tiefen kothigen Weg den
ſie
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 4. Altenburg, 1779, S. 267. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/musaeus_reisen04_1779/275>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.